Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
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Verletzlichkeit preisgaben. Dann war es, als lege jemand eine Maske über das Gesicht. Ellen McGill wurde von einem Augenblick zum anderen wieder zu der abweisenden, kalten Person, als die sie Nina kennen gelernt hatte.

      »Oh, shit!«

      Mehr sagte Ellen nicht. Dann drehte sie sich um und ging.

      Nina starrte ihr fassungslos nach. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Innerhalb von wenigen Minuten war ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden.

      Sie hatte Untreue immer verurteilt. Und jetzt gerade hatte sie ihren Freund betrogen. Sie war an Frauen nie in sexueller Hinsicht interessiert gewesen. Und jetzt hatte sie mit einer geschlafen. Sie hatte einen solch intensiven Orgasmus bisher nur aus blumigen Schilderungen anderer gekannt. Und soeben hatte sie das zum ersten Mal selbst erlebt.

      Außerdem hasste sie Ellen McGill. Da passte Sex mit ihr einfach überhaupt nicht ins Bild.

      Aber das Schlimmste an allem war: Sie war danach mit einer uncharmanten Aussage einfach sich selbst überlassen worden. Auch das war ihr noch nie passiert. Spontaner Sex, anonymer Sex, One-Night-Stands – das hatte es in ihrem Leben noch nie gegeben. Nina setzte stets auf Vertrauen und Langfristigkeit. Gewöhnlich ging sie mit einem Mann erst nach mindestens fünfwöchiger Bekanntschaft und zehn Treffen ins Bett. Zu groß war ihre Angst vor Verletzung oder der Fremdheit, die sich möglicherweise ihrer bemächtigen würde, wenn sie sich danach in die Augen sahen.

      So wie jetzt.

      Nina wollte nur noch weinen.

      Sie war gerade dabei, mit zitternder Hand ein paar Strähnen in ihrer Hochsteckfrisur zu befestigen, die sich durch das Intermezzo mit Ellen McGill gelockert hatten, als eine vertraute Gestalt im Türrahmen erschien.

      »Puh, Nina, hier bist du! Wieso machst du denn kein Licht an?«

      Jasna, ihre Kollegin, betätigte den Lichtschalter und tauchte den Raum in gleißendes Neonlicht. Nina kniff geblendet die Augen zusammen. Gleichzeitig versuchte sie, das Zittern ihres Körpers vor Jasna zu verbergen.

      »Wir warten auf dich.« Leiser Vorwurf lag in Jasnas Stimme. »Wegen der Kopie der Rede. Der Tontechniker braucht sie ganz schnell, um die Musik an den richtigen Stellen einzuspielen. Hast du sie nun kopiert?«

      Sie nickte schwach und wies mit dem Kinn in Richtung des Kopierers. Jasna nahm das Blatt an sich. Ihr Blick blieb an Nina hängen, wie sie kalkweiß und zitternd an der Wand lehnte. »Sag mal – ist dir nicht gut?«

      »Mir ist irgendwie schwindlig«, sagte Nina leise. Das war nicht gelogen.

      »Ja, um Gottes willen – so plötzlich?« Jasna schien wirklich besorgt. »Magst du nach Hause fahren?«

      Nina nickte. »Ja. Ja, ich denke, das ist besser.« Der Gedanke, in ihrem Zustand und nach diesem Erlebnis auf die Firmenfeier zurückzugehen, zu lachen, zu scherzen, Cocktails zu trinken und so zu tun, als sei nichts geschehen, war ihr unerträglich.

      »Ich werde dir ein Taxi rufen«, erklärte Jasna hilfsbereit und zückte ihr Handy. Als sie auflegte, fiel ihr etwas ein. »Sag, hast du Ellen gesehen? Sie war noch gar nicht auf der Feier …«

      »Nur flüchtig«, sagte Nina ausweichend. Ihr Puls ging bei der bloßen Erwähnung von Ellens Namen schneller und ihr flaues Gefühl im Magen wurde zur Übelkeit.

      Jasna zuckte mit den Schultern. »Ach Gott. Die Arme wird wahrscheinlich wieder unzählige Überstunden machen. Ich nehme an, sie wird die Feier spritzen. Soviel ich mich erinnere, muss sie morgen auch noch früh aus den Federn. Dienstreise nach Berkeley, für den Rest der Woche.«

      Für Nina war dies die zweitbeste Nachricht, die Jasna ihr hatte überbringen können. So hatte sie ein paar Tage Zeit, nachzudenken, was sie tun konnte. Vielleicht würde sie sogar einen neuen Job finden.

      Als Nina fünf Minuten später ins Taxi stieg, hoffte sie jedoch, dass am Montag der nächsten Woche die beste Nachricht ins Haus flatterte: Ellen McGill hat das Unternehmen auf eigenen Wunsch verlassen.

      Nina konnte sich nicht vorstellen, ihr nach diesem Zwischenfall nochmals über den Weg zu laufen. Sie wollte diese Frau nie wieder sehen. Dieses peinliche Erlebnis musste vergessen werden – so, als wäre es nie geschehen.

      »Das heißt, Sie haben das Studium abgebrochen, als Texterin gearbeitet, eine Graphikdesign-Ausbildung begonnen und abgebrochen, haben dann rund ein Jahr lang bei einer PR-Agentur gearbeitet und sind jetzt wieder als Texterin tätig.«

      Nina fühlte sich angesichts dieser Kurzfassung ihres Lebenslaufes zunehmend unwohl. Den Mann mit der Hakennase, der hinter dem Schreibtisch thronte und in ihren Unterlagen blätterte, konnte sie schwer einschätzen. Er hatte ihr freundlich die Hand gereicht und ihr aufmunternd zugelächelt, als er sie aufforderte, von ihrem Werdegang zu erzählen. Trotzdem: Jetzt, da er die Stationen ihres Lebens kurz und trocken zusammenfasste, schien es ihr so, als drücke sein Tonfall leichte Missbilligung aus.

      »Sie sind in Ihrer Kindheit recht oft umgezogen«, sagte die Frau, die neben ihm saß. Sie hatte sich als Jasna Milic vorgestellt – mit dem Zusatz: »Wenn Sie eingestellt werden sollten, bin ich Ihre Kollegin.«

      Für Nina hatte das etwas von der Verkrampfung genommen, die sie bei Vorstellungsgesprächen stets befiel. Sie hasste nichts mehr, als sich selbst präsentieren zu müssen wie ein Stück Rind am Viehmarkt. Seht her, ich bin das Beste, besser als alle anderen, nehmt mich. Sie hielt sich aber nicht für besser, ganz im Gegenteil. Und sie hasste es, anderen die weltgewandte kontaktfreudige PR-Lady vorzuspielen, die sie ihrer Selbsteinschätzung nach wirklich nicht war.

      Doch sie brauchte den Job. Sie brauchte ihn weit dringender, als diese Leute es sich vorstellen konnten. Sie und Lukas hatten sonst ein Riesenproblem. Ihr Vermieter würde sich nicht noch um einen weiteren Monat mit der Miete vertrösten lassen, und das Bankkonto war auch schon überzogen. Lukas würde das Problem nicht lösen.

      Also biss Nina die Zähne zusammen und versuchte das zu verkörpern, was von ihr als Anwärterin eines Jobs im hiesigen Pressebüro erwartet wurde. Das liebenswürdige Lächeln, mit dem Jasna Milic ihre Feststellung unterstrichen hatte, machte ihr neuen Mut.

      »Ja«, erwiderte sie. »Meine Eltern sind im künstlerischen Bereich tätig. Wir haben daher einige Jahre in Italien gelebt und später dann eben in verschiedenen deutschen Städten.«

      Ihre Mutter war Performance-Künstlerin mit Gelegenheitsauftritten, ihr Vater Bühnenbildner ohne Festanstellung. Die Umzüge waren schlicht notwendig gewesen, um zu überleben. Außerdem konnten ihre Eltern ohnedies keine Wurzeln schlagen und hatten sich bereits vor Jahren einvernehmlich getrennt, um eigene Wege zu gehen. All das ließ Nina unerwähnt, da gewiss nicht einmal eine Scheidung zu den Wertvorstellungen gehörte, die hier als positiv erachtet wurden. LENOPHARM hatte schließlich solide deutsche Wurzeln. Dass sowohl Michael Brauer, der Personalchef, als auch Jasna Milic einen Ehering trugen, war ihr nicht entgangen.

      »Dann können Sie sicher gut Italienisch«, erkundigte sich Jasna interessiert.

      »Na ja, wahrscheinlich besser als der Durchschnitt«, meinte Nina bescheiden. Dann rief sie sich in Erinnerung, dass Selbstmarketing wichtig war, und setzte im Brustton der Überzeugung hinzu: »Ich spreche es fast fließend.«

      »Unsere Firmensprache ist Englisch«, sagte Brauer ruhig. »Das ist kein Problem, nehme ich an.«

      »Aber nein«, sagte Nina. In dem Wissen, dass das so nicht richtig war, krampften sich ihre Hände ineinander. Englisch war keine ihrer Stärken. Wieso sollte sie in einem deutschen Unternehmen auch Englisch sprechen müssen?

      Brauer lieferte die Erklärung nach, als könne er in ihren Gedanken lesen. »Als Mitarbeiterin unserer Pressestelle haben Sie natürlich länderübergreifend PR-Maßnahmen abzustimmen. Gelegentlich müssten Sie auch an internationalen Meetings und Workshops teilnehmen.«

      »Aha«, sagte Nina. Die Anspannung ergriff wieder von ihrem ganzen Körper Besitz. Der Job war eindeutig eine Nummer zu groß für sie, das war klar. Das finanzielle Darben würde also kein Ende haben. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich und Lukas