Ellen. Carolin Schairer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Schairer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783897419964
Скачать книгу
Wendolins Suche nach dem Glück‹? – Das gibt es doch nicht!«

      »Eine Kinderbuchautorin«, stellte Brauer fest. Auch er klang überrascht. Nina fühlte, dass sie in seinem Ansehen erstmals seit Betreten dieses Raumes stieg.

      »Mein Sohn liebt dieses Buch«, sagte Jasna. »Ich muss ihm jeden Abend vor dem Einschlafen vorlesen. – Ich kann immer noch nicht glauben, dass Sie die Autorin sind. Stammen die Zeichnungen auch aus Ihrer Feder?«

      Nina unterdrückte ein Schmunzeln. Es amüsierte sie immer wieder, dass die meisten Leute ihren Namen auf der Buchklappe primär mit dem Text in Verbindung brachten. Für sie selbst standen stets die Zeichnungen im Vordergrund. Mit den Zeichnungen vor ihrem inneren Auge bildete sich die Geschichte und entstand das Buch. Der Text war für sie nur eine nebensächliche Notwendigkeit.

      »Ja, Text und Graphik.«

      »Und wie geht die Geschichte aus?«, schaltete sich nun Michaelis ein.

      »Irgendwann versagt die Magie und Prinz Wendolin muss seiner Prinzessin in seiner wahren Gestalt gegenübertreten«, erzählte Nina. Ihre innere Anspannung war verschwunden. »Er hält sich für unvollkommen und hat Angst, die Liebe der Prinzessin zu verlieren, doch zu seinem Erstaunen fällt seiner Liebsten nicht einmal auf, dass er in anderer Gestalt erscheint. Denn sie sieht nur sein gutes Herz, nicht die äußere Hülle. Und der Prinz begreift, dass Maskerade nicht notwendig ist, um Menschen für sich zu begeistern.«

      »Eine schöne Geschichte«, stellte Michaelis fest. Zu Brauer meinte er: »Warum sagen Sie mir nicht gleich, dass wir hier eine berühmte Kinderbuchautorin vor uns sitzen haben?«

      »Das war nicht Thema unseres Gesprächs.« Brauer wirkte sichtlich unangenehm berührt.

      »Sehen Sie – gut, dass ich noch dazu gestoßen bin.« Michaelis sandte Nina ein offenes Lächeln. »Es ist eben immer wichtig, bei Vorstellungsgesprächen die richtigen Fragen zu stellen. Was machen Sie sonst in Ihrer Freizeit, Frau Blume? Sind Sie sportlich?«

      »Nicht besonders«, gab Nina zu. »Früher habe ich einige Jahre Jazzdance gemacht.«

      »Und was ist mit Outdoor-Aktivitäten? Klettern, Rafting, Paragliding oder ähnliches?«

      »Ich habe Höhenangst.«

      »Gut. Das ist gut.« Michaelis wirkte zu Ninas Erstaunen regelrecht erleichtert. Er erhob sich nun. »Ich glaube, wir wissen, was wir wissen wollten. Herr Dr. Brauer wird sich bei Ihnen bis Ende dieser Woche wegen des Jobs melden.«

      Als Nina den vierstöckigen Glaspalast verließ, der zwischen den Altbauten von Wien-Leopoldstadt am Donaukanal thronte, war sie noch immer verwirrt. Noch nie hatte sie so ein persönliches Vorstellungsgespräch erlebt. Mit ihrer Enttarnung als Kinderbuchautorin hatte sie sich wohl endgültig für den Job als Mitarbeiterin in einem Pharma-Pressebüro disqualifiziert. Zu einem Unternehmen wie LENOPHARM passte sie nun einmal nicht. Im Grunde war sie sich sicher, dass niemals irgendein Unternehmen wirklich zu ihr passen würde. In Wahrheit wollte sie nur eines: Kinderbücher gestalten – frei nach ihren eigenen Ideen. Doch davon konnte sie nicht leben. »Prinz Wendolins Suche nach dem Glück« war ihr bisher einziges Buch gewesen, das verlegt wurde. Es war im November vergangenen Jahres erschienen, pünktlich zum Weihnachtsgeschäft. Geld hatte sie bisher noch keines gesehen.

      Nina hatte sich in den Vertrag gefügt, weil es ihr als die einzige Chance erschien, jemals eines ihrer Bücher zu publizieren. Sie malte, seit sie fünfzehn war; es gab unzählige illustrierte Geschichten in ihrem Schrank. Sie hielt sie allesamt für zu schlecht für eine Einreichung bei Verlagen und hatte sich daher nie darum bemüht. »Prinz Wendolins Suche nach dem Glück« hatte sie nur deshalb eingeschickt, weil ihr Freund Lukas sie permanent dazu ermutigt hatte. Sie war ihm dankbar dafür, dass er an ihr Talent glaubte.

      Um sich über Wasser zu halten, schrieb sie als freie Mitarbeiterin PR-Texte für Werbeagenturen. Sie schrieb über Waschmittel, Gesichtscremes, soziale Projekte, natürliche Schlankmacher und sogar über den praktischen Wert moderner Reinigungsanlagen für Gartenteiche, damit sie und Lukas zumindest etwas zu essen hatten. Zur Miete reichten ihre kärglichen Einkünfte, die stark von der Auftragslage abhängig waren, nicht immer. Das war auch der Grund, weshalb sie gerade wieder mit zwei Monatsmieten im Rückstand waren. Zum Glück war die Vermieterin, eine wohlhabende ältere Dame, bisher sehr nachsichtig gewesen. Doch auch diese Nachsicht würde ihre Grenzen haben.

      Als sich Michael Brauer zwei Tage später bei ihr meldete und ihr mitteilte, sie hätte den Job, war sie mehr als nur überrascht. Sie hatte nach diesem merkwürdigen Vorstellungsgespräch wirklich nicht damit gerechnet, die Stelle zu bekommen. Sie hatte ein seltsames Gefühl, als sie den Vertrag unterzeichnete, doch im Angesicht ihrer finanziellen Lage sah sie sich nicht in der Lage, abzusagen.

      Der Wecker klingelte um kurz nach sieben. Während Nina wie eine Feder aus dem Bett schnellte und im Halbdunkel nach der Stop-Taste suchte, rollte sich Lukas mit unwilligem Grunzen auf die andere Seite und verbarg seinen Kopf unter dem Kopfkissen.

      Nina konnte ihn gut verstehen. Sie waren am Vorabend beide erst um halb zwei ins Bett gekommen. Einer von Lukas’ Kumpels aus der Musicalklasse hatte Geburtstag gefeiert. Es war ein rauschendes Fest gewesen. Sie hatten die Party als erste verlassen – sehr zum Unwillen ihres Freundes, der gerne noch weitergefeiert hätte.

      Während sie sich in der Küche über dem Waschbecken die Zähne putzte, fragte sie sich, wie es ihr wohl erst in drei Monaten gehen würde. Sie machte den Job bei LENOPHARM erst seit drei Tagen und fühlte sich bereits reif für die Insel. Fünf Stunden Schlaf waren ihr auf Dauer einfach zu wenig. Aber es war schwierig, mit Lukas früher ins Bett zu kommen, selbst wenn es keine Party gab.

      Sie waren beide Nachtmenschen und gewohnt, morgens lange zu schlafen. Lukas, dessen Unterricht gewöhnlich erst um frühestens elf Uhr begann, sah keinen Grund, sein Leben umzustellen. Da die Wohnung, abgesehen von der Küche, in der auch Dusche und Waschbecken untergebracht waren, nur aus einem Zimmer bestand, konnte Nina nicht einfach früher ins Bett gehen und schlafen. Nicht nur Lukas’ Lärmkulisse machte dies unmöglich, sondern auch die räumliche Enge. Sie schliefen auf einer ausziehbaren Couch. Wenn die Couch zum Bett wurde, beanspruchte die Lagerstatt knapp ein Drittel des Raumes. Für Lukas war dann kein Platz mehr da, um Tanzschritte zu üben.

      Nina hoffte, dass sie sich mit der Zeit an das verringerte Schlafpensum gewöhnen würde. Vor dem Spiegel überschminkte sie ihre Augenringe. Zuvor war sie in den schwarzen Rock und die weiße Bluse geschlüpft, die sie sich schon am Vorabend zurechtgelegt hatte. Sie steckte ihr brünettes, welliges Haar zu einer losen Aufsteckfrisur zusammen und betrachtete sich prüfend im Spiegel.

      Nur halbwegs perfekt, dachte sie mit einem unterdrückten Seufzer. Ich sehe aus wie eine Kellnerin.

      Am ersten Arbeitstag bei LENOPHARM war sie in Jeans und einem tailliert geschnittenen schwarzen Shirt erschienen – und schämte sich innerlich in Grund und Boden, als sie sah, dass sogar die Sekretärinnen Jackett und Rock oder einen Hosenanzug trugen. Zum Glück hatte sie den Rock und eine dunkelblaue Hose in ihrem Kleiderschrank aufgestöbert und beschloss, beides abwechselnd zutragen, bis die erste Gehaltsüberweisung auf ihrem Konto einträfe. Dann würde sie wohl oder übel ihre Garderobe nach und nach dem für LENOPHARM angemessenen Level adaptieren.

      Um kurz nach acht fuhr Nina bereits den Computer hoch. Sie teilte ihr Büro mit Jasna Milic, die allerdings erst gegen halb neun einzutreffen pflegte. Sie musste zuvor ihren Sohn Jonas zur Schule bringen. Dafür blieb sie abends gewöhnlich länger.

      Nina entdeckte mit leichtem Schaudern, dass in der Zeit von gestern, 18.00 Uhr, bis heute, 8.10 Uhr, sage und schreibe zwanzig Mails in ihrer Mailbox eingelangt waren. Kein einziges davon war Spam, das man einfach löschen und vergessen konnte. Sie verband mit den Absendern der Mails kein konkretes Gesicht und konnte auch deren Anfragen und Wünsche nicht beantworten oder erfüllen. Einer fragte sie nach CI-Richtlinien für eine Produkt-Website, ein anderer schickte ihr einen Text zum »Gegencheck«, wie er schrieb, und wieder ein anderer bat sie, eine Pressemitteilung zum Thema »Richtige Verwendung von Antibiotika« unter dem Aspekt »Patientencompliance« zu entwerfen. Nina wusste von Antibiotika nur, dass sie ihr bei Einnahme