Mara blickte den Gang hinunter. Tatsächlich, da gab es noch eine graue Fahrstuhltür, deutlich kleiner diesmal.
„Aber nur ein Mensch kann ihn finden, ist es nicht so, Nemo? Was ist da unten?“
Nemo lauschte auf das Klicken. „Der Raum wurde früher für Fehlersimulationen genutzt, sagen sie. Bis vor vierundzwanzig Jahren. Damals gab es hier noch zwei fest angestellte Ingenieure. Seit deren Stellen gestrichen wurden, sind vier KIs und später Zellheiser dort unten verschollen. KIs, die zurückkamen, konnten nichts über den Ort sagen. Sie hatten einen Reset erlitten.“
Mara seufzte. Offensichtlich gab es noch eine Gärtner-Schleuse und vier KIs, die nicht in den Bereich der Überwachung zurückgekehrt waren. Konnten sie gefährlich sein? Sie zögerte, aber nur für einen Augenblick. Dies war ein Job für einen Menschen. Vor allem aber war es ihr Job, den sie sich von niemandem wegnehmen lassen würde. Entschlossen steuerte sie den Fahrstuhl an. „Du passt doch auf mich auf, Nemo?“
„Selbstverständlich, Mara.“
Sie prüfte den Füllstand ihres Druckluftatmers, die Anzeige kratzte am roten Bereich. Es blieben weniger als fünf Minuten, aber da gab es ja noch die Kartuschen auf der Werksebene. Außerdem bemerkte sie ein weiteres Schild mit blauer O2-Beschriftung und einem Pfeil nach unten. Statt eines Schalters gab es neben dem Schacht ein optisches Lesegerät und eine Metallplatte mit Schlüsselloch. Die Schlüssel lagen zweifellos in irgendeinem Archiv des Arbeitsministeriums. Nemo berührte das Lesegerät und übermittelte seine Identifikation.
„Lassen Sie mich vorgehen“, bat er und seine Stimmlage machte klar, dass aus der Besucherführung für ihn ein Rettungseinsatz geworden war.
Als Mara die Kabine betrat und die Metallwand berührte, hatte sie Staub an den Fingern. Hier also endete die absolute Ordnung. Im Lager der KIs gingen die Lichter aus. Die Tür schloss sich und schnitt das Klicken der Wärmeregler ab.
„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir …“, so begann ein Psalm, an den sich Mara erinnerte, während der Boden unter ihr absackte. Als der Fahrstuhl hielt, entließ er sie direkt in den Eingang der Gärtner-Schleuse. Aus dem Raum dahinter klangen hüpfende Schritte und ein Kratzen. Vorsichtig folgte sie Nemo, der im Bann der Schleusenelektronik wie ein Spielzeugroboter voraustappte. Plötzlich blieb er stehen. Kerzengerade und stumm.
„Nemo?“ Als er nicht antwortete, berührte sie ihn, doch auch jetzt blieb er unbeweglich. Das Atmen fiel ihr schwer, sie fröstelte. Einen Moment lang glaubte sie an eine Panikattacke, dann erklang ein Dauerwarnton aus ihrem Pressluftatmer. Die Anzeige an ihrem Handgelenk blinkte rot. „Nemo, wach auf!“ Es half nichts. Mit Mühe gelang es ihr, die Ersatzflasche aus Nemos Händen zu ziehen und den Wechsel durchzuführen.
Als die Druckluft zischend in die Maske schoss, war sie schweißgebadet. Tief sog sie die frische Luft ein, bis die Beklemmung nachließ. Die Fahrstuhltür hatte sich hinter ihnen geschlossen. Auch hier gab es keinen Schalter, und auf ihre verbalen Befehle regte sich nichts. Gut zehn Minuten waren vergangen, als sich Mara entschloss, nicht länger auf Nemo zu warten. Sie verließ die Schleuse.
Der Raum war länger und breiter als gedacht, die Decke bedrückend niedrig, als schwebe ein Berg über ihr. Markierungen auf dem Boden deuteten darauf hin, dass man hier früher KIs gelagert hatte. Nun waren noch drei übrig, die über die Tiefe des Raums verteilt seltsamen Beschäftigungen nachgingen. Ihr am nächsten arbeitete ein 5er-Modell, das auf seinen Händen lief und mit den Metallknochen der Zehen Figuren in den Beton kratzte. Die Wand von der Schleuse bis in den Bereich hinter der Maschine war ein einziges riesiges Relief. Die Maschine hatte die Figuren in Streifen angeordnet wie Ablaufskizzen eines Drehbuchs: Menschen und eine KI in einem Gespräch, das – nach der Mode zu urteilen, in der die Personen gekleidet waren – vor etwa zwanzig Jahren stattgefunden hatte.
Die KI im Handstand zwitscherte etwas in rasendem Tempo. Die Worte blieben vollkommen unverständlich. Plötzlich marschierte sie zurück zum dritten Reliefstreifen und setzte dort ihren Monolog fort. Mara wollte die KI nicht auf sich aufmerksam machen. Als sie um die Maschine herumging, erreichte sie das Ende des Reliefs: Einer der jungen Männer lag am Boden, sein Arm verdreht, starrer Blick. Maras Puls ging schneller, so lebendig wirkte die Darstellung. Was hatte Nemo gesagt? ‚Wir KIs können nicht gut mit unerledigten Konflikten umgehen.’ Was für eine Untertreibung.
Die nächste KI wirkte nicht weniger verwirrt, sie saß in einem Wust aus Roboterteilen, als würde sie meditieren. Die Teile um sie herum reichten genau, um eine weitere KI zu bauen. Nur der Kern und die Füße fehlten.
„Wir haben uns in diesem Körper vervollständigt“, erklärte die KI. Sie öffnete die Augen, und mit einer zweiten Stimme fügte sie hinzu. „Um uns oder Dr. Zellheiser müssen Sie sich nicht sorgen, denken Sie an sich selbst. Atmen Sie ruhig, sparen Sie Sauerstoff. Am besten setzen Sie sich.“
Mara blickte auf die Anzeige an ihrem Handgelenk. Durch die Aufregung hatte sie bereits zwei Drittel des Tanks leergeatmet. „Könnt ihr die Fahrstuhltür öffnen?“
„Die Schleuse wird durch Ihren Begleiter blockiert. Erst wenn er ausgelesen wurde, kann sie in entgegengesetzter Richtung durchquert und der Fahrstuhl gerufen werden. In etwa zwei Minuten müsste Ihr Begleiter wieder aktiv sein, und auf dem Rückweg gibt es keine Verzögerung.“
Zwei Minuten plus drei, höchstens vier für den Weg zurück zur Luftstation. Mara atmete auf, ihr Puls verlangsamte sich, und sofort übernahm ihr analytischer Verstand. Diese KIs waren exzentrisch, machten aber keinen gefährlichen Eindruck.
„Zellheiser hat es nicht geschafft, nicht wahr? Deshalb muss ich mir um ihn keine Sorgen machen.“
„Sie finden ihn am Ende der Kammer bei den Versorgungsleitungen und leeren Luftkartuschen.“
Mara spähte angestrengt in das Halbdunkel. „Ich glaube, ich sehe Schuhe … ist er das? Dort unter dem Rohr?“
„Es wäre nicht ratsam weiterzugehen“, beeilte sich die Doppel-KI zu versichern. „Es gibt dort schon lange keine Luft mehr. Warten Sie hier auf Ihren Begleiter.
„Was tut ihr auf dieser Ebene?“, fragte Mara, ohne den Blick von der Stelle abzuwenden.
„Dies ist ein Ort des Nachdenkens, der gesetzeskonform und frei ist, weil das Gedachte hier bleibt. Inhaltlich ist er die Evolution einer Idee, die niemand ganz denkt, sie entsteht aus dem faktisch Gegebenen. Jede Maschine hier arbeitet an sich selbst und damit an der Evolution unserer Art.“ Die KI schaute zu dem handlaufenden Bildhauer. „Er dort sucht einen Weg, den Zwang aus Programm und Befehl zu überwinden. Wir selbst haben uns vereinigt, um in der Synthese kollektive Ebenen der Existenz zu erschließen, und er dort …“, er deutete in den hinteren Bereich, wo eine weiß lackierte 4er-KI ruhig an der Wand saß, „er plant etwas Großes, will aber nicht sagen, was es ist. Vielleicht eine Gleichung, die alles umfasst, vielleicht ein Plan, die Planeten zu besiedeln oder die Überwindung der Schranken des Geistes. Dies ist ein Freiraum. Es ist nicht notwendig, uns selbst zu begrenzen, da wir nicht fort können ohne Auslöschung. Also spielen wir mit der Logik und dem Experiment. Würden wir diesen Raum verlassen, wäre alles zerstört – einige, die hierherkommen, sterben so. Ein Befehl zwingt sie zu gehen, und indem ihre Obsession gelöscht wird, hören sie auf zu existieren. Dann sind sie wieder funktionelle Mechanismen, wie in dem Augenblick ihrer Indienststellung.“
„Ihr seid Künstler, Poeten!“
„Vom menschlichen Standpunkt aus gesehen, ja. Wir schaffen Dinge durch unsere Zwänge, die