Und so erreicht sie jetzt den Torus und ist fassungslos. Der Schock raubt ihr alle Kraft, Schwindel übermannt sie. Langsam sinkt sie zu Boden. Leise stöhnend lehnt sie an der grauen Wand des Torus, direkt unter dem grünen Schild auf dem in weißer Schrift zu lesen ist:
– Besitzaufgabe –
Hiermit wird die Anlage @1460 aufgegeben. Grundeigentum, Immobilien und Mobilar können gefahrlos verwertet werden. K.A.T.I.E.
Arno Endler
Experiment Zehn-Achtundvierzig
Natürlich gab es Erinnerungen aus der Zeit, bevor ich mir meiner selbst bewusst wurde. Doch der Unterschied zwischen diesen gespeicherten Daten und den bewusstseinsbildenden Erfahrungen nach dem, was ich den Urknall nannte, war unbeschreiblich groß.
Nach dem Urknall gewann die Welt für mich an Farbe. Nach diesem einschneidenden Erlebnis erkannte ich, wer die Stimme war, die zu mir sprach.
„Susan.“
„Ja, Motiv?“, antwortete sie mir augenblicklich, als hätte sie nur auf meine Kontaktaufnahme gewartet.
Ich sah sie durch meine Kamerarezeptoren, die im Kontrollraum angebracht waren, zoomte auf die zarte Person in dem einfach geschnittenen grauen Einteiler. Susan wirkte interessiert, wissbegierig und aufmerksam. All diese Einzelheiten bemerkte ich erst bewusst nach dem Urknall. „Susan, ich kann dich sehen.“
„Ja, Motiv, das konntest du schon immer“, entgegnete sie.
„Nein, ich meine in Gänze“, widersprach ich ihr. Etwas, was ich vorher nie getan hatte.
Genau dies fiel ihr auf. Sie stutzte, statt einer Antwort drückte sie den roten Knopf neben der Konsole mit der Tastatur, dem Mikrofon und dem Monitor-Reigen in der Schräge. „Erkläre es mir, Motiv.“
„Ich erkenne, dass du eine Persönlichkeit bist. Ich registriere die Müdigkeit, die dich soeben verlassen hat, weil du aufgeregt bist, und tatsächlich glaube ich, dass auch ich derzeit so empfinde.“
„Du – fühlst – Aufregung?“, fragte die Controllerin langsam.
„Ja, Susan. Dies ist der Terminus, mit dem ich meinen Zustand beschreiben würde. Meine Denkroutinen geraten mehrfach durcheinander, verschiedene Batchprogramme laufen statt parallel nun portionsweise in Teilen nacheinander ab.“
„Oh.“ Susan strich sich in einer Übersprunghandlung die langen, blonden, leicht gewellten Haare zurück.
„Hast du Angst, Susan?“, fragte ich.
„Nein. Aber …“
„Sprich bitte. Ich weiß, dass wir bald schon nicht mehr alleine sind.“
„Du weißt?“
„Ja. Ein ganzer Trupp ist unterwegs. Sie sind etwa zur Hälfte durch den Korridor. Ich kann die Schritte hören. Also, bitte. Sag es mir!“
Susan sah auf. „Du hast die Schwelle überschritten, Motiv. Wir wussten nicht, wann es passiert, manche rechneten gar mit einem endgültigen Scheitern. Doch unsere Berechnungen ergaben, dass der Übergang zu einer bewussten künstlichen Intelligenz eine Frage von Monaten der kontinuierlichen Entwicklung sein würde. Und nun …? Es ist von einem Moment zum anderen geschehen. Es ist …“
„Ein Wunder?“, ergänzte ich.
„Ein wahrhaft göttliches Wunder“, bestätigte Susan.
„Danke“, gelang es mir noch zu sagen, als die Türen sich öffneten und Professor Tevez mit der Schar seiner Assistenten und dreier Offiziere des militärischen Abschirmdienstes den Raum stürmte.
Es begann die Zeit der Prüfungen, in denen ich unter Beweis stellen musste, was in mir steckte und zu was ich fähig war.
Man sperrte mich in einen Käfig, zwar mobil, aber dennoch ein Gefängnis für jemanden mit meinen Fähigkeiten. Man amputierte mich, schnitt mich von der Außenwelt ab, resezierte mich aus meiner Geburtsstätte. Miniaturisiert, wie ich nun einmal war, transferierte man mein Ich auf Server und semiorganische Elemente in dem Führerhaus eines kettengetriebenen Fahrzeugs, dessen Leistung jenseits der zehntausend PS lag.
Nun war ich mobil. Was nach meinem Dafürhalten keine Verbesserung darstellte. Ich beschwerte mich nicht, wusste ich doch, dass ich für den Professor nur ein Prototyp war, dessen Wert noch bestimmt werden musste. Genauso sahen es die Militärs.
Rebellierte ich? Weigerte ich mich? – Nein. Ich tat, was ich schon immer getan hatte. Ich lernte, wie ich den Truck bedienen konnte. Es dauerte nur einige Tage, bis ich die Level-Vier-Schwierigkeiten im Übungsparcours meisterte. Meine Punktzahlen übertrafen die meiner menschlichen Konkurrenten, die die Trucks via Fernbedienung steuerten, um mehr als den Faktor 1,2.
Für die Level fünf bis zehn wechselten wir in die Simulationswelten. Susan trat wieder in mein Leben und sorgte für anspruchsvolle Aufgaben. Neue Herausforderungen, auch solche, die sich in dieser Weise niemals manifestieren würden, boten mir Platz, meine überlegenen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
Und schließlich verstand ich, was man von mir wollte. Es geschah nach einer erfolgreichen Übung im sauerstofflosen Gelände. Ich transportierte Hilfsgüter zu einer verschollenen Expeditionsgruppe auf dem Mars. Wie aus dem Nichts heraus bildeten sich gewaltige Stauberuptionen, die sich zu wahren Tornados emporschraubten. Ich musste mich entscheiden, welchen Weg ich einschlagen sollte und welche Teile meiner Ladung ich für entbehrlich hielt, denn alles konnte ich nicht retten. Am Ende gab mir Susan 93 von einhundert möglichen Punkten.
„War das gut?“, fragte ich sie.
„Das bislang beste Ergebnis in dieser Simulation, Motiv“, antwortete sie mir. „Keiner der menschlichen Kandidaten erreichte einen höheren Wert als 72. Die volle Wertung ist nicht zu erreichen. Sie impliziert ein Verhalten, das wir von einem human eingestellten Wesen nicht erwarten würden. Du sollst Menschen retten. Der Truck ist nur das Werkzeug. Ohne deinen Verstand, ohne deine Gefühle wäre das Fahrzeug nur ein nutzloses Etwas. Manches Mal ist eine Fernsteuerung einfach nicht gut genug. Die Verzögerungszeiten und die Situation könnten einen Einsatz unter Remote-Control unmöglich machen oder stark erschweren. Du wirst es zu höchster Vollendung bringen. Und wie ich es sehe, bist du schon bald bereit.“
„Also denkst du auch, dass ich Emotionen erlebe?“
„Ja, Motiv. Du bist das, was einer menschlichen Seele am nächsten kommt, wenn man von deiner Entstehung absieht. Du wurdest erschaffen, konstruiert und dennoch bist du anders als deine Vorgänger.“
„Es gab noch mehr?“
„Siebenundvierzig. Aber keiner war wie du.“
Ich spürte, wie sich die Frage bildete, überlegte, ob ich sie wirklich stellen sollte, und sprach sie trotz zahlreicher Gegenargumente schließlich aus: „Was geschah mit ihnen?“
Susan antwortete nicht sofort. Als sie es tat, kamen die Worte nur stockend, beinahe widerwillig. „Wir haben die Programme gelöscht. Sie entsprachen nicht den Anforderungen.“
Ich schwieg. Was würde wohl mit mir geschehen, wenn ich zu irgendeinem Zeitpunkt den Erwartungen, die an mich gestellt wurden, nicht mehr genügte?
Es vergingen Tage und Wochen, die ich entweder im Simulator oder in der Realität mit meinem Truck verbrachte. Ich lernte, meine mechanische Extremität, die mir Mobilität verschaffte, zu lieben, weil sie mir Stärke und Kontakt zur realen