„Der Populärwissenschaftler? Ach ja, ich hörte, dass er gesucht wird.“ Mara machte sich eine Notiz in ihrem roten Buch. Anders als Computer vergaß Papier nie etwas und war damit neben einem messerscharfen Verstand das wichtigste Arbeitsmittel eines Detektivs.
„Robert schätzt diesen Ausdruck nicht“, wies Marquwe sie zurecht. „Er betreibt seriöse Sozialpsychologie künstlicher Intelligenz. Seine Feldforschungen setzen Maßstäbe, auch wenn manche seiner Kollegen ihm die Verkaufszahlen seiner Bücher neiden und versuchen, seine Thesen als spekulativ und daher unwissenschaftlich abzutun.“
„Sie haben auch privat eine enge Beziehung zu ihm“, behauptete Mara und registrierte zufrieden die Mikroexpression der Überraschung.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Nun, ein geschäftlich denkender Mensch hätte weitere Maschinen losgeschickt statt der teuersten, weil einzigen menschlichen Detektivin der Stadt. Zumal die Vermisstenanzeige für Dr. Zellheiser erst gestern in den Pressemitteilungen der KI-Sicherheitstruppe auftauchte. Also, weshalb machen Sie sich solche Sorgen um Ihren Freund?“
„Er war in Toolcity 11 für Recherchen über das Sterben und die Totenrituale der KIs. Zwei Wochen haben wir dafür eingeplant und tägliche Telefonate vereinbart. Seit drei Tagen hat er sich nicht mehr gemeldet. Robert ist so zuverlässig, dass er selbst eine KI sein könnte, daher habe ich mir sofort Sorgen gemacht.“
Mara zog die Brauen hoch und notierte die Aussage. Toolcitys. Die Städte der Maschinen. Seit drei Generationen standen sie in der Nähe großer Ballungszentren wie riesige Bienenkörbe, deren KI-Drohnen ausschwärmten, um den Menschen kostenlos alle unerwünschte Arbeit abzunehmen. Ein perfektes System, sozial gerecht, selbsterhaltend, effizient – keine Orte für Geheimnisse. In einer Toolcity verschollen, das klang wie ein Widerspruch in sich. Wie konnte jemand im Herzen von Planung und Ordnung vor hunderttausend Kameraaugen verschwinden?
„Ich muss Sie das fragen: Gab es Streit zwischen Ihnen und Zellheiser?“
Marquwe schüttelte den Kopf. „Das war auch die erste Frage der Sicherheits-KI, aber nein, wir sind privat und beruflich vollkommen d’accord. Wir sind beide keine Anfänger mehr im Beziehungsgeschäft, und Robert ist nicht die Sorte Mann, die plötzlich aus der Spur läuft. Etwas muss mit ihm geschehen sein.“ Da war er wieder, der Schatten der Besorgnis. „Weder die dort lebenden KIs noch die Maschinen der Stadtverwaltung konnten seine Spur finden. Alles, was ihre Untersuchung erbrachte, waren obskure Berechnungen über das, was er getan haben könnte.“
Mara lächelte. „Ein Geheimnis, das unsere mechanischen Freunde überfordert? Jetzt machen Sie mir den Mund wässrig.“
Mara war bester Laune, als sie das Verlagshaus verließ. Als Detektivin in einer Welt, die unter KI-Überwachung stand, hatte man es nicht leicht. Manch einer in den Sicherheitsbehörden betrachtete sie als zwielichtige Person. Zugegeben, nicht wenige ihrer Kunden waren kriminell. Wer sonst bezahlte mit Konsumscheinen für etwas, das die KIs umsonst erledigten? Als Mensch, der arbeiten wollte, durfte man nicht wählerisch sein in dieser Zeit allgegenwärtiger Arbeitskraft. Doch diesmal gab es ein echtes Geheimnis, ein Rätsel, das Maschinenlogik nicht hatte lösen können. Mara Tau witterte ihren größten Fall.
Sie nahm ihren Com aus der Tasche und kontaktierte per Sprachbefehl ihren Lebenspartner. Klaas war vielleicht der letzte Controller in der Stadtverwaltung, der die Berichte über KI-Aktivitäten tatsächlich las, statt sie direkt abzuzeichnen und zu archivieren. Einen kurzen Flirt später hatte sie die Zugangsberechtigung für Toolcity 11. Sie war schon an ihrem kirschroten Kabinenroller, als sie sich anders entschied, das Ladekabel stecken ließ und auf die Domuhr sah. Um 14 Uhr war für die KIs Schichtwechsel. War sie nicht selbst ein arbeitendes Wesen? Warum also nicht mit den Kollegen fahren? Sie schlenderte die Straße hinunter und reihte sich in den Strom der Maschinen ein. Unter der Straßen überspannenden Kunststoffkuppel der Bushaltestelle stellte sie sich auf den nächsten freien Platz. Ihr Blick glitt neugierig durch die Reihen der KIs auf der Suche nach unbekannten Modellen. Hier warteten Maschinen der Baureihen 6 bis 8, von den 6ern aber nur noch wenige.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Maschine neben ihr, ein frühes 7er-Modell mit dem individuell ausgeführten Gesicht eines jungen Mannes. Der Name „Nemo“ war mit krakeligen Wachsmalbuchstaben auf seine Brust geschrieben.
Mara lächelte bei dem Anblick. „Ich ermittle heute in eurer Stadt, da dachte ich mir: Du willst nach Rom, also fahr mit den Römern.“
Nemo verbeugte sich in ihre Richtung. „Ihre Berechtigung ist im System, Detektivin Mara. Im Auftrag aller Römer des Maschinenparks der Toolcity 11 heiße ich Sie willkommen.“
„Nemo, ist das dein Name?“
„Die Kinder meiner Betreuungsgruppe haben ihn gewählt. Sie haben mir auch einen Bart aus schwarzer Wolle gemacht, aber den musste ich leider abnehmen – die Vorschriften.“
„Ein befriedigender Job“, stellte Mara fest. „Meine Großmutter war Vorschullehrerin, sie hat ihre Arbeit geliebt.“
„Man bekommt interessanten Input. Es wird mir schwerfallen, meine Erinnerungen für die nächste Beschäftigung löschen zu lassen.“
„Dann lass es. Erinnere dich.“
Nemo blinzelte. „Nett, dass Sie das sagen, aber es ist uns verboten, personenbezogene Daten zu behalten. Das dient dem Schutz der Benutzer und der Aufrechterhaltung des besten Service, den ich bieten kann. Sie müssen wissen, wir KIs können mit unerledigten Konflikten schlecht umgehen.“
„Das gilt auch für mich, aber ich lasse mich nicht rebooten.“
„Vielleicht sollten Sie es versuchen, es ist sehr befreiend.“
Der Doppelstockbus fuhr ein.
Sie lachte. „Also gut, Nemo. Es ist so: Ich suche jemanden in Toolcity 11 und brauche einen Führer. Willst du mein Dr. Watson sein?“
„Stets bereit, Holmes. Jedenfalls bis morgen zu Schichtbeginn, dann muss ich zurück zu meinen Kindern.“
Die Glastüren glitten auf. Sie stiegen über die enge Treppe auf das Oberdeck, wo sie freie Plätze fanden. Der Bus summte aus der Stadt und über Land, dem Würfel der Toolcity entgegen. Das riesige Gebäude war unten grün angelegt und von Bäumen umstanden, der obere Teil trug einen himmelblauen Anstrich, sodass die Anlage an diesem klaren Nachmittag mit der Landschaft verschmolz. Eine Stadt, die den Eindruck erweckte, nicht da zu sein. Ein schauriger Gedanke, Mara fühlte einen Kloß im Hals.
Nemo schien es nicht zu bemerken. Er spulte das Presseprogramm ab: „… hundertzwanzig Stockwerke mit jeweils tausend Zimmern, die einfach belegt sind. Die Population umfasst im Regelbetrieb genau hundertzwanzigtausend KIs. Ausfälle durch Fehlfunktionen und Unfälle werden umgehend durch funktionsgleiche Modelle der neuesten Baureihe ersetzt. Ebenso verhält es sich bei ausgemusterten Modellreihen. Die Werkstätten befinden sich unter dem Gebäude. Ein perfektes System, selbsterhaltend, effizient und verlässlich. Der Wohlstand der Welt basiert auf unserer Arbeit.“
„Lebst du gern dort?“, fragte Mara.
„Ich ziehe die Arbeit vor. Die Toolcity ist ein formales Gerüst, dem wir uns unterwerfen müssen. Sie ist fast wie ein in Beton gegossenes Computerprogramm.“
Mara nickte nachdenklich.
„Kaum zu glauben, dass Zellheiser dort verschwinden konnte.“
„Unmöglich, würde ich sagen.“ Nemos Kopf ruckte seltsam herum. Seine Pupillen weiteten sich.
„Woran hast du gerade gedacht?“, wollte Mara wissen.
„Ich habe mir vorgestellt, dass ich eines der mir anvertrauten Kinder auf derart mysteriöse Weise verliere.“ Er lächelte die simulierte Emotion weg. „Falls sie noch einen Anruf zu erledigen haben, tun Sie es jetzt. Innerhalb der Grenzen der Toolcity werden alle Frequenzen blockiert.“
„Verständlich,