„Sie sind doch noch jung …“
„Ich bin seit acht Jahren verheiratet, und die Tage, an denen ich wirklich mit meinem Mann zusammengelebt habe, kann ich mir an den Fingern abzählen. Seit wir in den Westen gekommen sind, ist alles noch schlimmer.“
„Vielleicht wären Sie besser drüben geblieben.“
„Das weiß ich jetzt auch, aber was nutzt mir das? Für uns gibt es kein Zurück mehr.“
Plötzlich zuckte die Tante zusammen. „Still!“ sagte sie, „ganz still!“
Die beiden Frauen lauschten angespannt, Schritte waren auf der Treppe zu hören, kamen näher – dann fiel die Haustür ins Schloß.
„Gott sei Dank“, sagte die Tante aufatmend, „es war nur der Junge.“
„Ach so. Ich dachte, Wilhelm wäre schon längst in der Schule.“
III.
Als der junge Wilhelm Holzboer atemlos das graue Schulgebäude betrat, läutete die Glocke schon zum Beginn des Unterrichts. Es gelang ihm gerade noch, hinter Oberstudienrat Dr. Elegius Werner in die Klasse zu schlüpfen, dann wurde die Tür geschlossen.
Die Jungen und Mädchen waren aufgestanden, um ihren Klassenlehrer zu begrüßen. So rasch und unauffällig wie möglich nahm Wilhelm seinen gewohnten Platz ein, verstaute seine Mappe unter der Bank und versuchte dann sofort einen Blick mit Erika Bogdan zu tauschen, die in der Reihe hinter ihm auf der anderen Seite des Ganges saß. Aber Erika blickte starr geradeaus, er sah nur das Profiel ihres kleinen, stupsnäsigen Gesichtes.
„Guten Morgen, meine jungen Freunde!“ – Dr. Elegius Werner legte seine Aktentasche auf das Katheder, dann wandte er sich wieder der Klasse zu: „Setzen!“
Polternd ließen sich die Oberprimaner und Oberprimanerinnen auf ihren Bänken nieder. Der junge Wilhelm beeilte sich, dem Beispiel seiner Klassenkameraden zu folgen und „Goethes Faust, erster Teil“ vor sich auf sein Pult zu legen.
„Wo sind wir dran?“ fragte er flüsternd.
„Kerkerszene“, raunte Sepp, sein Banknachbar, zurück.
„Meine lieben, jungen Freunde“, begann Dr. Werner händereibend, „zum Schluß der vorigen Stunde hat einer von Ihnen … ich glaube, es war Bergner … die Frage aufgeworfen, warum Gretchen sterben muß, das heißt, warum Goethe sie nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen läßt, mit ihrem Geliebten zu fliehen. Ich glaube, diese Frage ist interessant genug, daß wir uns ein wenig ausführlicher darüber unterhalten sollten. Wer hat etwas dazu zu sagen?“
Sofort meldete sich Anni Knott, Erikas Freundin.
„Ich freue mich, Knott“, sagte Dr. Werner – er hatte die Angewohnheit, seine Schüler, ob sie nun Jungen oder Mädchen waren, immer nur mit dem Nachnamen anzureden, als wenn er damit seine völlige Unvoreingenommenheit gegenüber der Mädcheninvasion auf das ursprünglich als reine Jungenschule gedachte Gymnasium dokumentieren wollte –, „ich freue mich, Knott, daß Sie über das Problem nachgedacht haben.“
„Natürlich muß Gretchen sterben“, sagte Anni überzeugt, „schließlich ist sie ja eine Mörderin. Sie hat ihre Mutter umgebracht … und ihr Kind doch auch. Und außerdem … Valentin …“
„Das stimmt doch gar nicht!“ rief Toni Bergner dazwischen.
„Immer erst ausreden lassen, Bergner“, rügte Dr. Werner. „Was wollten Sie noch sagen, Knott?“
„Das war alles.“
„Gretchen hat ihre Mutter ja gar nicht umbringen wollen“, sagte Toni, „sie hat ihr das Pulver ja nur gegeben, weil sie es für ein harmloses Schlafmittel gehalten hat. Und ob sie ihr Kind wirklich getötet hat, steht ja gar nicht fest. Wir erfahren es bloß von Mephisto und …“
„Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, Bergner, aber daß Gretchen ihr Kind getötet hat, dürfen wir doch wohl als Tatsache unterstellen. Es handelt sich bei Goethes Faust um ein Drama, aber nicht um einen Kriminalreißer.“
Die Klasse lachte.
„Und wenn. Sie hat es ja bestimmt nur getan, weil sie völlig verzweifelt war und keinen anderen Ausweg sah.“
„Das ist sicherlich ein Milderungsgrund, aber keinesfalls eine Entschuldigung.“
„Für eine Kindestötung würde sie heutzutage höchstens ein paar Jahre Gefängnis kriegen, niemals aber sterben müssen.“
„Das Stück spielt im Mittelalter“, warf einer aus den hinteren Reihen dazwischen.
„Schön und gut, aber Goethe ist doch ein humaner Mensch … und selber Jurist … und da sollte man doch annehmen, daß er sich für Gretchens Verbrechen eine Strafe hätte ausdenken können, die ihrer tatsächlichen Schuld entspricht“, nahm eines von den Mädchen Tonis Partei.
„Wurden zu Goethes Zeiten Kindsmörderinnen nicht tatsächlich noch geköpft?“ wollte einer der Jungen wissen.
„Meine lieben, jungen Freunde“, sagte Doktor Werner, „ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie die Sache von einer falschen Seite her anpacken. Vom Juristischen ist diesem Problem natürlich nicht beizukommen, sondern nur vom Moralischen her. Margarete hat schon in dem Augenblick Schuld auf sich geladen, als sie dem Werben Faustens und ihrer eigenen Leidenschaft nachgab. All die anderen fahrlässigen oder bewußten Verbrechen, die sie späterhin noch auf sich lädt, entspringen lediglich dieser ersten Schuld, die ich als eine Urschuld des Weibes bezeichnen möchte. Sie selber sagt: ,Doch alles, was mich dazu trieb, ach, war so gut, ach, war so lieb!’ – Tatsächlich, aber hat sie schon vom ersten Moment an das Vertrauen ihrer Mutter enttäuscht, hat sie gegen ihr eigenes besseres Wissen und Gewissen gehandelt … ja, Bogdan, was wollen Sie sagen?“
Erika war aufgesprungen. Alle starrten sie an. Ihr Gesicht war totenbleich, dunkle Ringe lagerten um ihre Augen. Es sah aus, als ob sie sprechen wollte, dann aber schlug sie ihre Hand vor den Mund und stürzte blindlings aus der Klasse hinaus.
„Was hat denn Bogdan?“ fragte Dr. Werner erstaunt.
„Ihr ist schlecht geworden, Herr Oberstudienrat“, sagte Anni.
„Ist sie krank?“
„Ich weiß nicht …“
„Woher wissen Sie dann, daß ihr schlecht geworden ist?“
„Sie hat so was in letzter Zeit schon öfters gehabt“, sagte ein anderes Mädchen.
„So? Und warum wird mir das nicht gemeldet? Warum geht sie nicht zum Arzt?“
„Sie sagt, es ist nicht so schlimm.“
„Ich glaube, es ist schlimm genug. Warum stehen Sie, Holzboer? Haben Sie mir etwas zu sagen?“
Unwillkürlich war Wilhelm Holzboer aufgesprungen, er hatte sich beherrschen müssen, um nicht Erika nachzulaufen.
„Nein, Herr Oberstudienrat.“
„Dann setzen Sie sich gefälligst. Und Sie, Knott, packen Sie Bogdans Sachen zusammen und bringen Sie ihr alles nach … schauen Sie, was sie macht und sagen Sie ihr, daß sie sofort zum Arzt gehen soll. Wenn ihr noch nicht besser ist, begleiten Sie sie. Haben Sie mich verstanden?“
„Jawohl, Herr Oberstudienrat.“
*
Anni fand Erika im Vorraum der Toilette. Sie hatte sich grade das Gesicht gewaschen und war nun dabei, es sich mit ihrem Taschentuch abzutrocknen. Die dunklen Schatten unter ihren Augen waren verschwunden, ihre Wangen hatten schon wieder Farbe, die Augen Glanz bekommen.
„Mensch, Erika … du hast uns ja einen schönen Schrecken