Das goldene Kalb. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718490
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war ganz sicher in der Waschküche. Trotzdem streifte sie sich vorsichtig die Schuhe von den Füßen, nahm sie in die Hand und schlich lautlos auf ihren Wollstrümpfen zur Treppe hin, nahm die erste Stufe, die zweite, die dritte, versuchte die vierte, die immer so abscheulich knarrte, zu überspringen und – erstarrte.

      Sie hatte ihre Mutter in der Küche rumoren gehört.

      Einen Augenblick war sie keines Gedankens fähig, stand steif und still da, während sie fühlte, wie ihr Herz sich zusammenzog. Dann, als sie sich grade entschlossen hatte, weiter hinaufzuschleichen, öffnete sich die Küchentür, und die Mutter trat in die kleine Diele.

      Einen Augenblick starrten sich die beiden Frauen an, Mutter und Tochter. Keine sagte ein Wort. Erika versuchte zu sprechen, aber ihre Stimme versagte.

      Es war wie eine Erlösung, als Frau Bogdan sich endlich rührte. „Erika … du hier? Hast du etwas verjessen?“ Sie tat einen Schritt auf die Treppe zu.

      „Ja, Mutter“, sagte Erika mühsam.

      „Wat? Wat hast du verjessen?“

      „Mutter … ich …“

      „Warum haste dir die Schuhe ausjezogen?“

      Auf diese Frage wußte Erika eine Antwort. „Sie waren so schmutzig, Mutter …“

      „Deshalb brauchste sie doch nicht bis hinauf in dein Zimmer zu nehmen.“

      Erika schwieg.

      „Komm sofort runter, Erika … komm her zu mir, janz nah!“

      Erika ging langsam und zögernd die vier Stufen zurück, die sie so vorsichtig hinaufgeschlichen war.

      „Sieh mir in die Augen, Kind … hast du mir nichts zu sagen?“

      „Was denn, Mutter?“

      „Warum siehst du mir nicht an? Hast du ein schlechtes Gewissen?“

      Erika versuchte, dem Blick ihrer Mutter zu begegnen. „Nein“, sagte sie.

      „Warum biste um diese Zeit nicht in der Schule?“

      „Ich hab’ dir doch schon gesagt … ich habe etwas vergessen.“

      „Du lügst!“

      In diesem Augenblick kam ein zischendes Geräusch aus der Küche, die Aufmerksamkeit der Mutter wurde für eine Sekunde abgelenkt. Erika machte eine unwillkürliche Bewegung, als wenn sie davonlaufen wollte.

      Frau Bogdan wandte sich ihrer Tochter sofort wieder zu. „Du kommst mit“, sagte sie und packte das Mädchen hart am Handgelenk. Sie zerrte sie in die Wohnküche, warf die Tür zu und eilte an den Herd, um den Topf mit der Kartoffelsuppe, die sprudelnd kochte, von der Mitte der Platte wegzuschieben. Sie öffnete den Deckel, der Geruch warmen Essens erfüllte die kleine Küche, und Erika wurde es wieder schlecht.

      Sie stürzte zum Ausguß, von Übelkeit geschüttelt, mußte sie würgend erbrechen. Aber ihr Magen hatte nichts mehr herzugeben als grüne Galle.

      Frau Bogdan kam ihrer Tochter nicht zur Hilfe, sie starrte sie nur an, die kräftigen, nackten Arme, die von der Arbeit in der Waschküche gerötet waren, in die Hüften gestemmt. „So ist det also“, sagte sie tonlos, „so ist det also … unser einziget Kind!“

      Erika drehte den Wasserhahn auf und ließ sich kaltes Wasser über das glühende Gesicht sprudeln.

      Die Mutter riß sie zu sich. „Willst du mich immer noch anlügen?“

      „Ich bin krank, Mutter“, schrie Erika in höchster Verzweiflung. „Krank!“

      „Eine schöne Krankheit is det! Weißte, wie ich diese Krankheit nenne? Hurerei nenne ich sie … ja, du brauchst gar nicht so ein Jesicht zu machen! Hurerei! Du, mein einziget Kind, bist eine Hure! Lüg mich nicht noch mehr an! Meinst du denn, ich habe keene Augen im Kopf? Meinst du, ick habe nicht längst bemerkt, wat mit dir los ist? Mit wem hast du dir herum jetrieben? Antworte! Hörst du, antworte! Ich will et wissen!“

      Sie packte Erika bei den Schultern und schüttelte sie. Erika schwieg verbissen, die Lippen eng aufeinandergepreßt.

      Die Mutter ließ sie los. „Du brauchst mir nichts zu sagen. Ick weiß schon, wer et war … der junge Holzboer! Mit dem hast du et doch immer so wichtig jehabt. Mathematik mußtest du mit ihm zusammen lernen, Aljebra. Eine schöne Aljebra! Mein Jott, mein Jott, wenn det der Vater erfährt. Ich sage dir, er schlägt dich tot, er jagt dich aus dem Hause!“ Plötzlich ließ Frau Bogdan sich, überwältigt von der entsetzlichen Erkenntnis, die ihr jetzt erst voll zu Bewußtsein gelangte, auf einen Stuhl sinken. „Mein Jott, mein Jott … diese Schande! Unser einziget Kind. Womit haben wir det verdient! Lieber Jott … ich frage dich, womit haben wir det verdient? Haben wir nicht allet für dich jetan … allet, allet, allet? Haben wir dich nicht studieren lassen? Haben wir dir nicht jeden Wunsch erfüllt? Und du … du jehst hin und … et ist entsetzlich, lieber Jott, et ist entsetzlich! Was sollen wir nun tun, was sollen wir bloß tun? Lieber Jott, die Leute werden mit Fingern auf uns zeigen. Wir werden nicht mehr aus dem Haus gehen können, ohne daß sie über uns lachen. Diese Schande, mein Jott, diese Schande. Und du stehst da und machst ein Jesicht, als ob alles jar nicht so schlimm wäre. Red doch, verteidige dich, sag etwat, irgendwat!“

      „Mutter“, brachte Erika mühsam hervor, „Mutter … es tut mir so schrecklich leid.“

      „Leid tut et dir?“

      „Ja, Mutter … wir haben das nicht mit Absicht getan, ganz bestimmt nicht. Mutter, du mußt mir helfen.“

      „Helfen?“

      „Ja, Mutter … in sechs Wochen habe ich Abitur. Wenn ich bis dahin durchhalte …“

      „Abitur! Dieset Mädchen bekommt ein Kind und denkt an ihr Abitur. Glaubst du, dein Abitur kann dir helfen, wenn die janze Stadt mit Fingern auf dich zeigt? Glaubst du, du wirst ’ne Stellung hier bekommen, wenn alle wissen, wat du für eine bist?“

      „Bitte, Mutter, versuch doch, mir zu helfen … ich verlange ja gar nichts weiter von dir, als daß du schweigst. Bitte, bitte, Mutter, sag Vater kein Wort davon. Ich bitte dich, Mutter.“

      „Ja, jetzt kriegst du Angst, wat? Jetzt soll ich dir helfen? Jetzt, wo et zu spät ist. Hättest du früher auf deine Mutter jehört. Hab’ ick nicht immer versucht, einen anständigen Menschen aus dir zu machen? Haben wir nicht allet für dich jetan, dein Vater und ich? Und du, du jehst hin und läßt dich mit einem Kerl ein. Noch nicht aus der Schule und schon eine Hure! Mein Jott, mein Jott, was wird der Vater sajen. Er wird dich totschlagen, dat sage ich dir!“

      „Mutter …“

      „Sei still! Ich will kein Wort mehr von dir hören!“

      „Mutter … Helm wird mich ja heiraten.“

      Frau Bogdan sah auf. „Heiraten?“

      „Ja. Er hat es mir fest versprochen.“

      Plötzlich warf Frau Bogdan ihre Arme über den Küchentisch und begann hemmungslos zu weinen. – –

      Am nächsten Tag kam Erika nicht in die Schule und auch am übernächsten nicht. Vielleicht hatte Dr. Werner einen Entschuldigungsbrief von ihren Eltern bekommen, aber er sprach nicht darüber.

      Wilhelm wußte nicht mehr ein noch aus. Hundertmal am Tage war er nahe daran, sie zu besuchen, aber im nächsten Augenblick verwarf er diesen Gedanken wieder. Er wagte es nicht. Er hatte Angst, ihr durch seinen Besuch mehr zu schaden als zu nützen.

      Er spürte deutlich, daß Erika etwas geschehen war – aber was? Er wäre froh gewesen, wenn er etwas hätte unternehmen können, um ihr zu helfen, aber er wußte nicht, wie er es anfangen sollte. Sie hatten sich fest versprochen, keiner Menschenseele ihr Geheimnis zu verraten, bis zum Abitur. Wenn er jetzt mit seinem Vater sprach oder mit Frau Bogdan, war es vielleicht ganz falsch. Er durfte nicht handeln, bevor er nicht sicher wußte, wie es um Erika stand. Er mußte sich unbedingt mit ihr in Verbindung setzen. Offiziell ging