Das goldene Kalb. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718490
Скачать книгу
Berge waren noch mit Schnee bedeckt, der im ungewissen Mondlicht schimmerte; sie schienen sehr nahe. Föhnige Wolken trieben über den Himmel, hüllten den Mond in milchige Schleier, um ihn gleich darauf wieder strahlend aufscheinen zu lassen.

      Wilhelm winkelte die Arme an und setzte sich in Trab.

      Die gleichmäßige Bewegung des Dauerlaufs tat ihm gut, er lief durch enge Gassen dem Stadtrand zu.

      Dann hörten die gepflasterten Straßen auf, Wilhelm hatte die breiten, schmutzigen Wege der neuen Siedlung erreicht. Er war am Ziel. Aufatmend blieb er stehen, hob den Kopf. Der Mond war jetzt vollkommen hinter Wolken verschwunden. Es war sehr dunkel, nur die Umrisse der gleichförmigen Siedlungshäuser waren zu erkennen, viele Fenster waren noch hell erleuchtet und warfen ihr Licht in die Gärten.

      Wilhelm Holzboer kannte das Haus der Bogdans gut.

      In der Wohnküche brannte Licht. Die Vorhänge waren zugezogen, aber die Fensterläden nicht geschlossen. Er konnte den hin und her eilenden Schatten von Frau Bogdan beobachten. Ein heißer Schrecken durchfuhr sein Herz. Was sollte er tun, wenn Erika mit ihren Eltern zusammen in der Küche saß? Dann gab es keine Möglichkeit, sich mit ihr zu verständigen.

      Vorsichtig sah Wilhelm sich nach links und rechts um, die Straße war wie ausgestorben. Mit einem Satz sprang er über den hölzernen Zaun in Bogdans Garten.

      Ein Hund in der Nachbarschaft schlug an, ein anderer stimmte ein.

      Wilhelm stand wie erstarrt. Das Bellen wollte kein Ende nehmen. Stimmen wurden laut, die die Hunde zurechtwiesen, dann endlich war wieder alles ruhig.

      Wilhelm war bei dem Sprung in weicher Gartenerde gelandet. Jetzt tastete er sich auf den Weg. Zweige knackten unter seinen Schritten, seine Hosen streiften niedrige Obststräucher. Plötzlich brach der Mond wieder durch die Wolken, und Wilhelm duckte sich. Die Gärten in der neuen Siedlung waren winterlich kahl, es gab keinen starken Baum, keinen kräftigen Strauch, hinter dem er sich hätte verbergen können. Eine endlose Minute lang blieb Wilhelm zusammengekauert hocken, dann war der Mond wieder verschwunden.

      Halb geduckt, in langen Sätzen, schnellte er voran, bis er die Rückseite des Hauses erreicht hatte. Er wußte, daß Erikas Zimmer gleich unter dem Dach war. Täuschte er sich oder sah er hinter ihrem Fenster wirklich ein kleines Licht?

      Wilhelm bückte sich, fand einige kleine Steine, warf sie hoch. Der erste verfehlte sein Ziel, der zweite sprang klirrend gegen die Scheibe, der dritte, der vierte.

      Atemlos wartete er. War Erika wirklich in ihrem Zimmer? War sie allein? Hatte sie ihn gehört?

      Jetzt war es plötzlich ganz dunkel hinter dem kleinen Fenster geworden. Hatte er sich vorhin getäuscht, oder hatte Erika das Licht gelöscht? Lautlos wurde das Fenster geöffnet, Wilhelm ahnte mehr, daß Erika sich hinausbeugte, als daß er sie wirklich sah. Er sprang hoch, warf die Arme auseinander, damit sie auf ihn aufmerksam wurde. Einen Augenblick blieb das Fenster geöffnet, dann wurde es wieder geschlossen.

      Hatte Erika ihn bemerkt? War es wirklich Erika gewesen?

      Wilhelm kauerte sich wieder auf den Boden, wartete. Er starrte auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Eine Minute verging, noch eine.

      Wilhelm lauschte angespannt. In Bogdans Haus blieb alles ruhig. Er wartete. Seine Wadenmuskeln begannen sich zu verkrampfen. Er richtete sich auf, entspannte die Muskeln. Wie ein heller Schatten fiel Mondlicht über den Garten, sofort kauerte er sich wieder zusammen. Dann herrschte Dunkelheit wie zuvor.

      Er glaubte, Erikas Fenster keine Sekunde aus den Augen gelassen zu haben, aber dann hatte es sich doch geöffnet, ohne daß er es bemerkt hätte. Ein kleiner Gegenstand fiel in seiner Nähe auf den Boden. Das Fenster wurde wieder geschlossen.

      Wilhelm konnte nicht beobachten, was Erika geworfen hatte – denn das sie es gewesen war, daran bestand für ihn kein Zweifel mehr – noch wohin es gefallen war.

      „Verdammt!“ murmelte er zwischen den Zähnen. Wenn er doch seine Taschenlampe mitgenommen hätte.

      Er tastete sich zu der Stelle, von wo der Laut des Aufpralls gekommen war, suchte vorsichtig mit den Fingerspitzen die Erde ab. Er fand nichts, suchte fieberhaft weiter.

      Er schrak zusammen, als heller Lichtschein in den Garjten fiel. Bogdans hatten im Schlafzimmer Licht angeknipst. Wilhelm wandte sich zur Flucht – da sah er es. Mitten in dem hellen Viereck, das das Licht aus dem Schlafzimmer auf dem Gartenboden bildete, lag etwas Weißes. Das mußte es sein.

      Einen Augenblick zögerte er, dann sprang er mit einem Satz vor, griff zu, sprang zurück und rannte davon.

      Er gab sich jetzt keine Mühe mehr, leise zu sein, ungesehen zu bleiben, er rannte, als wenn es um sein Leben ginge.

      Wieder schlugen die Hunde an. Wilhelm kümmerte es nicht. Er hörte noch, wie ein Fenster aufgerissen wurde und Herr Bogdan in die Nacht hinaus rief: „Ist da jemand?“ – Aber da war er schon mit einem Satz über den Zaun.

      Er gönnte sich keine Atempause, sondern lief weiter, bis er die Hauptstraße von Leuchtenberg, die breite Max-Josef-Straße, erreicht hatte.

      Jetzt erst wagte er einen Blick auf das zu werfen, was er in Bogdans Garten aufgehoben hatte und was seine Hand noch immer umkrampft hielt. Es war eine Dose mit Hautkreme, an die mit einem doppelten Nähfaden ein zusammengeklapptes Blatt Papier gebunden war – Erikas Botschaft.

      Unter einer Laterne löste er mit zitternden Händen den Zettel, steckte die Cremedose in die Hosentasche, warf den Faden fort.

      Dann las er, was Erika in flüchtiger Schrift, offensichtlich in höchster Eile, auf das Papier – es war ein Blatt aus dem Mathematikheft – gekritzelt hatte: „Lieber Helm, sie lassen mich nicht mehr zur Schule. Ich bin in meinem Zimmer eingesperrt. Mutter hat alles entdeckt, sie hat es auch Vater gesagt. Ich weiß, daß Anni da war, aber sie lassen sie nicht zu mir. Ich bin furchtbar verzweifelt. Niemand spricht ein Wort mit mir. Ich weiß nicht, was sie vorhaben. Ich glaube, Vater würde nicht so sein, aber Mutter –! Am liebsten würde ich sterben. Du kannst mir nicht helfen, Helm, niemand kann mir helfen. Bitte, sei mir nicht böse. Habt ihr die Mathematikarbeiten zurückbekommen? Mach Dir keine Vorwürfe, Du kannst nichts dafür, ich war schuld. Ich liebe Dich, Erika.“

      Und darunter stand noch eine Nachschrift, kaum leserlich: „Ich könnte vielleicht aus dem Fenster klettern; aber wo soll ich hin?“ – –

      Der nächste Tag war ein Freitag.

      Wilhelm kehrte aus der Schule nicht nach Hause zurück, sondern ging geradewegs zum Versandhaus „Jedermann“. Die Pförtner, die die Aufgabe hatten, das Kommen und Gehen der Arbeiter und Angestellten zu kontrollieren – nach einem undurchsichtigen System wurden auch Körper- und Taschenuntersuchung derjenigen gemacht, die das Werk verließen – grüßten devot. Jeder, der dem jungen Wilhelm Holzboer in der Firma begegnete, grüßte in ihm den künftigen Herrn des Versandhauses. Wilhelm gab diese Grüße nur flüchtig zurück, er eilte vorwärts, mit zusammengebissenen Lippen, leicht vorgebeugtem Kopf, wie ein junger Stier, der entschlossen ist, seinen Feind auf die Hörner zu nehmen.

      Er wollte sofort vom Gang aus in das Arbeitszimmer seines Vaters eindringen, aber die Tür war verschlossen. So blieb ihm nur der Weg über das Vorzimmer.

      Irene Xantner, die Sekretärin seines Vaters, eine schlanke, fast hagere, junge Frau mit mausgrauen Augen und mausgrauem zerzaustem Haar, empfing ihn freundlich. „Der junge Herr Holzboer“, sagte sie, „das ist aber mal eine Überraschung!“

      „Ich möchte meinen Vater sprechen.“

      „Tut mir leid …“

      „Bitte, melden Sie mich … es ist dringend“, unterbrach Wilhelm.

      „Herr Holzboer ist gar nicht hier, er ist vor zehn Minuten zum Arzt gegangen.“

      „Ist das wahr?“

      „Aber, Wilhelm … warum sollte ich Sie denn belügen?“

      Irene Xantner war schon seit mehr als zehn Jahren in der Firma