„Mir bekommt bloß das Frühstück nicht. Ich hätte besser gar nichts gegessen, aber ich hatte einen Mordshunger.“
„Und dann wird dir nachher schlecht?“
„Hast du vielleicht was dagegen?“
„Ich glaube, du bist krank, Erika.“
„Ach wo! Großer Unsinn!“
„Doktor Werner sagt es auch.“
Erika fuhr herum. „Hat er geschimpft?“
„Nö … geschimpft eigentlich nicht …“
„Was denn?“
„Er hat gesagt, daß du zum Arzt gehen sollst. Und ich soll dich begleiten.“
„Danke, ich brauche keinen Aufpasser.“
„Erika!“
„Ist doch wahr. Ich weiß schon, was du willst … mir nachspionieren, sonst nichts!“
„Na, bitte … dann geh’ ich eben zurück und sage Doktor Werner, daß du nicht zum Arzt gehen willst.“
„Mach dir keine Mühe, das kann ich auch selber sagen.“ Erika wollte an Anni vorbei zur Tür.
„Erika!“
„Ja … was noch?“
„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun.“
„Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“
„Du kennst doch Doktor Werner.“
Erika seufzte. „Stimmt. Wenn der sich in was verbissen hat, dann steigt er nicht mehr runter.“
„Eben.“
„Na schön. Dann geh du zurück und sag … ich bin zum Arzt.“
„Deine Mappe liegt oben bei der Garderobe.“
„Danke.“
„Mach’s gut.“
Erika reichte der Freundin zum Abschied die Hand.
„Willst du mir nicht doch sagen, was mir dir los ist, Erika?“
„Nichts … das habe ich doch schon gesagt.“
„Ich meine nicht wegen dem Schlechtwerden, sondern überhaupt … irgend etwas ist doch los mit dir. Du bist so anders in letzter Zeit, ganz fremd. Hast du dich mit Helm gezankt? Sag’s mir doch, vielleicht kann ich dir helfen.“
„Menschenkind … du hast eine Phantasie“, sagte Erika, aber Anni entging nicht, daß ihre Lippen zitterten.
„Ich war doch immer deine beste Freundin“, drängte sie weiter.
„Bist und bleibst du, Anni … und wenn ich jemals Hilfe brauchen sollte, bist du der erste Mensch, an den ich mich wenden würde. Aber vorläufig ist es noch nicht soweit, glaub mir. Das einzige, was ich von dir verlange … laß mich doch mit deiner blöden Fragerei in Ruhe. Du kannst mich sonst noch zur Verzweiflung …“
Erika sprach den Satz nicht zu Ende, sie drehte sich plötzlich auf dem Absatz um und stürzte hinaus. Anni sollte nicht erleben, daß sie in Tränen ausbrach. – –
Als Erika auf der Straße stand, kam ihr das Verzweifelte ihrer Situation erst voll zum Bewußtsein.
In die Klasse konnte sie nach dem, was vorgefallen war, heute nicht mehr zurück. Was sollte sie ihrer Mutter sagen? Mußte sie nicht Verdacht schöpfen, wenn sie jetzt, plötzlich, mitten in der Schulzeit nach Hause kam? Vielleicht ahnte die Mutter sogar schon etwas. Sie hatte in der letzten Zeit häufig so merkwürdige Fragen gestellt, hatte sie oft, wenn sie glauben konnte, daß sie es nicht merkte, mißtrauisch beobachtet. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Erika wußte selber, daß sie überempfindlich geworden war. Trotzdem – nach Hause konnte sie jetzt nicht. Sie schluchzte trocken auf, holte tief Atem, um sich zu beruhigen.
Von der Kirchturmuhr schlug es neun.
Was konnte sie, eine Schülerin des Städtischen Gymnasiums, an einem Alltag um neun Uhr in der Frühe in Leuchtenberg tun? Wohin sie auch ging, würde sie auffallen. Jeder, der ihr begegnete, würde ihr nachschauen, vielleicht sogar Fragen stellen.
Fragen, Fragen, Fragen – wie sie das haßte. Warum nur konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen? Aber mehr noch als die Fragen haßte sie die Antworten, die sie selber geben mußte, diese verlogenen, gleichgültigen, ausweichenden Antworten. Früher hatte sie nie gelogen, höchstens einmal geschwindelt, aber jetzt – es war alles so fürchterlich.
Wenn es doch einen Menschen gäbe, dem sie sich anvertrauen könnte. Nur einen einzigen Menschen auf der Welt. Aber es gab niemanden. Außer Helm. Und Helm konnte ihr auch nicht helfen.
Vielleicht, wenn sie tatsächlich zu Doktor Vogelsang ginge und ihm alles erklären würde, überlegte Erika. Aber sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Sie, wußte, daß es für Ärzte ein Berufsgeheimnis gab, aber das galt sicher nicht für sie, sie war ja noch unmündig, alle hielten sie für ein Kind – ein Kind, das jetzft selbst ein Kind bekam. Es war schrecklich, unausdenkbar schrecklich.
Zwei Frauen mit Einkaufstaschen näherten sich, Nachbarinnen. Erika drückte sich tief in den Torweg. Unwillkürlich faltete sie die Hände und betete: „Lieber Gott, hilf mir! Laß sie vorüber gehen. Hilf mir, daß sie mich nicht sehen.“
Die beiden Frauen waren so in ihr Gespräch vertieft, daß sie gar nicht auf den Gedanken kamen, einen Blick in den dunklen Torweg zu werfen.
Gott sei Dank! Diese Gefahr war vorüber. Aber noch einmal konnte sie so etwas nicht riskieren. Sie mußte handeln, rasche Plötzlich wußte sie, es gab nur eine Chance für sie. Sie mußte so schnell wie möglich nach Hause laufen und versuchen, unbemerkt in ihr Zimmer zu schlüpfen. Mutter hatte heute Waschtag. Vielleicht würde es ihr gelingen, Mutters Blicken zu entgehen. Dann war sie gerettet.
Morgen früh in der Schule würde sie dann erzählen, daß sie bei Dr. Vogelsang gewesen war und er eine leichte Magenverstimmung konstatiert hätte. Niemand würde sich dann mehr Gedanken machen, wenn es ihr noch ein paarmal schlecht würde. Es dauerte ja nicht mehr lange. In sechs Wochen war das Abitur, bis dahin mußte sie durchhalten.
Das Abitur, das war das einzige Ziel, das Erika sich gesetzt hatte, weiter dachte sie nicht. Was nachher geschehen sollte mit ihr und dem Kind, darüber machte sie sich keine Gedanken. Helm hatte versprochen, sie zu heiraten, irgendwie würde sich alles ordnen lassen. Nur das Abitur mußte sie erst machen. Solange mußte sie durchhalten, um jeden Preis.
Die Hände tief in die Taschen ihres Wintermantels gebohrt, die Schulmappe unter den Arm geklemmt, eilte Erika mit raschen Schritten nach Hause. Am liebsten wäre sie gelaufen, aber sie wagte es nicht, um nicht aufzufallen. Den Kragen ihres Wintermantels hatte sie hochgeschlagen, als wenn sie sich dahinter verstecken könnte. Sie hielt die Augen zu Boden gesenkt, in der Hoffnung, sich dadurch so unauffällig wie möglich zu machen. Trotzdem glaubte sie sich von tausend Blicken durchbohrt, hatte sie das Gefühl, daß hinter ihrem Rücken schon über sie getuschelt und geraunt wurde. Gegen ihren Willen verfiel sie in einen leichten Trab und war heilfroh, als sie endlich aus der Stadt heraus war und die ersten Häuser der neuen Siedlung auf tauchten.
Aber hier, wo ihre Eltern – der Expedient Bogdan und seine Frau Agathe – sich vor zwei Jahren mit wenig Geld, schwerer Arbeit und einer kleinen Hypothek ein Häuschen errichtet hatten, wurde es erst wirklich gefährlich, denn hier kannte sie jedes Kind.
Erika mußte grüßen, ob sie wollte oder nicht, aber sie ging so schnell und zielbewußt, daß niemand es wagte, sie aufzuhalten Die Wege hier draußen waren schlecht, der Schneematsch bespritzte ihre Beine bis zum Knie, aber sie achtete nicht darauf. In ihr war nur ein Gedanke, ein Ziel – ungesehen in ihr Zimmer zu kommen. Vorsichtig und lautlos öffnete sie die Gartenpforte, vorsichtig und lautlos schloß sie sie wieder, war mit drei Schritten bei der kleinen Treppe,