„Ich fürchte, Vater …“ begann Juliane.
Der junge Wilhelm erhob sich brüsk. „Das ist ja zum Kotzen!“ Er schmetterte seinen Löffel in den Teller, den er kaum angerührt hatte. Die Schokoladenspeise spritzte hoch.
„Wat fällt dir denn ein, Jung?“
„Helm!“ rief Christiane. „Benimm dich!“
„Setz dich sofort wieder hin!“ befahl Juliane.
„Ach, laßt mich doch in Ruhe … ihr!“ Der junge Wilhelm rannte aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloß.
„Nu möcht ich bloß mal wissen, was in den jefahren is!“ sagte Wilhelm Holzboer, mehr verblüfft verärgert. „Könnt ihr erklären, wat der hat?“
II.
Es war kurz nach Mittag.
Der junge Wilhelm Holzboer hatte sich umgezogen. Er trabte in Skihosen, schweren Schuhen und Rollkragenpullover, die Schlittschuhe an einem Riemen über die Schulter gehängt, zum „Großen Loch“ hinaus, dem Weiher vor der Stadt, auf dem die Schuljugend von Leuchtenberg im Winter Schlittschuh zu laufen pflegte. Seine Hände, die er zu Fäusten geballt hatte, waren vor Kälte gerötet, sein blonder Schopf leuchtete.
„Kaum, daß die Mutter unter der Erde ist …“sagte Frau Willkommner, die gerade eine Kundin aus dem Geschäft gelassen hatte und dabei einen Blick auf die Straße warf.
„Wer?“ fragte Zenzi, das Ladenmädchen, neugierig.
„Wer schon! Der junge Holzboer natürlich.“
Zenzi zuckte die Achseln und machte sich weiter daran, Konservendosen auf dem Bord einzuräumen. „Die sind halt so …“
Der junge Wilhelm hatte keine Ahnung, von der Mißbilligung, mit der man sein, Tun und Lassen in der kleinen Stadt beobachtete. Wenn er es gewußt hätte, wäre es ihm gleichgültig gewesen. Er war überzeugt, daß er schon so genug Probleme hatte, ohne daß er sich um das Gerede der Leute kümmerte.
Auf dem „Großen Loch“ herrschte buntes Treiben. Das Eis war grau und weich, von flachen Pfützen bedeckt, die sich langsam aber ständig vergrößerten. Jeder wollte diesen Tag, der vielleicht der letzte Eislauf des Jahres war, bis zur Neige genießen. Die Oberprimaner, Wilhelms Klassenkameraden, die sich mit betontem Hochmut von den Jüngeren zurückhielten, johlten Wilhelm nicht wie gewöhnlich zu. Er war drei Tage nicht in der Schule gewesen, und der Tod seiner Mutter machte sie befangen. Sie wußten nicht, ob sie über diese Tatsache einfach zur Tagesordnung übergehen könnten, oder ob Wilhelm von ihnen erwartete, daß sie ihm kondulierten.
Er half ihnen. „Der Wetterbericht meldete einen neuen Kälteeinbruch“, sagte er beiläufig, während er sich in der Nähe von Sepp und Toni, die am Rande des Weihers eine Zigarette rauchten, seine Schlittschuhe anschnallte.
„I glaub a, ’s wird heut nacht schneien“, stimmte Toni ihm sofort erleichtert zu.
„Du kannst meine Hefte einsehen, wannst willst“, erbot sich Sepp.
„Hast du sie bei dir?“
„Na … z’haus.“
„Ich komm heute abend vorbei.“
Sepp hielt Wilhelm seine Zigarette hin, er tat zwei Züge und reichte sie zurück.
„Dann, bis nachher.“
Wilhelm stieß sich mit ein paar kleinen Stößen ab, dann sauste er in die Mitte des Eislaufplatzes, daß das Wasser vor seinen Schlittschuhen aufspritzte. Er hatte Erika Bogdan längst entdeckt, ihr brauner, lockiger Pferdeschwanz wehte aus ihrer korallenroten Strickmütze heraus, während sie Hand in Hand mit ihrer Freundin Anni Kreise und Bogen auf dem grauen Eis zog. Er wußte, daß auch sie ihn längst bemerkt hatte, aber einem ungeschriebenen Gesetz unter der Jugend Leuchtenbergs folgend, wartete sie ab, daß er zu ihr kam. Ein Mädchen, das sich einem Jungen näherte, auch wenn die beiden noch so gut befreundet waren, galt als „aufdringlich“.
Er war den beiden Freundinnen bis auf wenige Schritte nahe gekommen, als Anni plötzlich Erikas Hand los ließ, ihr einen Stoß von hinten gab, so daß sie gegen Wilhelm prallte. Lachend stob Anni davon.
„Erika “, sagte er und hielt sie an den Schultern fest, „Erika.“
In ihren braunen, runden Augen blitzten nicht wie sonst die goldenen Fünkchen auf, wenn sie ihn ansah. Sie schlug die Wimpern nieder, ihre Lippen bebten.
„Was ist?“ fragte er erstaunt.
„Ach, nichts …“
Er zog seinen Arm unter ihren, ihre Hände klammerten sich ineinander, und sie begannen im gleichen Rhythmus über das Eis zu gleiten.
„Hat dich Dr. Werner wieder gepiesackt?“ fragte er.
„Nein …“
„Ach so, du bist mir böse, daß ich gestern und vorgestern nicht gekommen bin. Aber du weißt doch genau …“
„Ich habe jeden Tag auf dich gewartet.“
„Ich konnte nicht kommen, das hättest du wissen müssen“, sagte er ärgerlich.
„Ich … ich habe so auf dich gewartet.“
„Das war schön dumm von dir.“
„Ich weiß, daß ich sehr dumm bin …“ sagte sie leise.
Eine Weile glitten sie schweigend über das Eis. Der Weiher war nicht sehr groß, und es wimmelte nur so von Kindern. Immer wieder mußten sie ausweichen. Die Luft war erfüllt von Schreien, Lachen, Johlen und Schimpfen. Und dennoch hatte Wilhelm plötzlich das Gefühl, als wenn er und Erika ganz alleine auf der Welt wären, als wenn sie in einer wunderbaren unendlichen Einsamkeit durch weite Räume schwebten.
„Ich kann wirklich nichts dafür, Erika“, sagte er.
„Das weiß ich doch …“
„Warum bist du dann so?“
„Ich … du verstehst mich nicht, ich wollte dir nur sagen, wie es war … ich will dir doch keinen Vorwurf machen.“
„Du bist mir also nicht böse?“
„Nein …“
„Dann ist ja alles gut.“
Sie blieb mit einer so scharfen Wendung stehen, daß ihre Schlittschuhe hart über das Eis kratzten.
„Nichts ist gut.“
Er starrte sie verständnislos an.
„Ich … ich hatte dir etwas sagen wollen … aber es hat ja doch keinen Zweck. Wir wollen Schluß machen, ja? Das ist bestimmt das Vernünftigste.“
„Erika! Bist du verrückt geworden?“
„Nein, ich bin ganz vernünftig.“
„Wenn du mir nicht sofort sagst, was los ist …“
„Ich kann nicht …“
„Du mußt. Denk an unseren Schwur.“
„Das ist etwas ganz anderes. Ich muß allein damit fertig werden.“
„Na schön. Aufdrängen will ich mich nicht. Vielleicht hast du jemand anderen gefunden, der dir besser gefällt, dann … viel Glück!“ Er bohrte seinen Schlittschuh ins Eis und schwang sich herum.
„Helm!“ rief sie, schoß hinter ihm her und klammerte