Flamme von Jamaika. Martina Andre. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Andre
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726292879
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sich in ein helles Jaulen verwandelte. Völlig überrascht starrte sie auf das am Boden liegende Tier. Jemand hatte es erschossen. Bevor Baba auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, tauchte ein Reiter auf einem stattlichen Maultier neben ihr auf, und ein starker Arm legte sich um ihre Taille. Wie von Geisterhand hob sich ihr magerer Körper in die Lüfte und landete unsanft vor dem Mann im Sattel. Der Blick in sein strenges Gesicht und auf sein schulterlanges, nussbraunes Haar, das er mit einem schwarzen Stirnband zu bändigen versuchte, verschaffte Baba Gewissheit. Ein Gefühl tiefer Erleichterung erfasste sie, als er seinen schützenden Arm um sie legte.

      «Jess!?» Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen, so geschwächt war sie mittlerweile. «Ich werde verfolgt!»

      «Sei ruhig! Ich hab’s gesehen.»

      Ihr Sohn trug eine schwarze Armeehose und die schweren Reitstiefel eines Soldaten. Beides musste aus einem Überfall auf ein Lagerhaus der Armee stammen. Sein feuchtes Hemd hatte er ausgezogen und mit den Ärmeln an den Sattel des Mulis geknotet. Sein muskulöser Oberkörper und seine mächtigen Arme glänzten vom Schweiß.

      Plötzlich fiel ein zweiter Schuss, und wieder jaulte ein Hund auf. Erst jetzt registrierte Baba, dass Jess nicht alleine gekommen war. Eine ganze Horde von dunkelhäutigen Rebellen, die auf sein Kommando hörte, ließ den Wald lebendig werden. Nathan, ein kleiner gedrungener Kämpfer mit pechschwarzer Haut, hatte den zweiten Hund erschossen, während die anderen fünf Krieger ihre Pistolen nachluden.

      «Gebt acht, wenn sie durch das Blattwerk stoßen», raunte Jess ihnen zu. «Es sind nur drei Soldaten, aber ihr müsst sie mit dem ersten Schuss erwischen, sonst schießen sie zurück oder entkommen und holen Verstärkung.»

      Dann schnalzte er mit der Zunge, und der Maulesel trug seine beiden Reiter eine Serpentine hinauf. Währenddessen umklammerte Jess ihren dürren Körper, als ob er sie mit seiner bloßen Anwesenheit schützen könnte. Baba wusste, er würde sie um jeden Preis vor den Soldaten retten und in Sicherheit bringen. Ein Gefühl tiefer Geborgenheit durchflutete sie.

      «Jess, ich …», begann Baba, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war.

      «Halt den Mund!», herrschte er sie von neuem an. «Denk ja nicht, dass du dich bei mir entschuldigen kannst! Oder dass ich deiner Wahnsinnstat Verständnis entgegenbringe!»

      Erstaunlich flink erklomm der Muli die nächste Höhe, während am Fuße des Berges zwei weitere Schüsse fielen. Baba wagte es nicht, den Steilhang hinabzusehen. Was würde aus den übrigen Jungs werden, wenn sie es nicht schafften, die Soldaten zu erledigen? Die Männer waren Jess treu ergeben und folgten ihm in jeden noch so aussichtslosen Kampf. Nicht nur das eigene Leben hatte Baba leichtsinnig aufs Spiel gesetzt, sondern auch das ihres Sohnes und seiner Krieger.

      «Es tut mir leid», stieß sie kläglich hervor.

      «Das wird Cato nicht reichen», erwiderte Jess düster. «Der Ältestenrat wird darüber befinden, was mit dir geschehen soll. Du hast sämtliche Regeln gebrochen. Und dafür wirst du bestraft werden müssen.»

      «Woher wusstest du …?»

      «Du meinst, wie ich dich finden konnte?»

      Seine Stimme klang ein klein wenig weicher, oder bildete sie sich das nur ein? Sie empfand es als Schande, dass sie ihren einzigen Sohn nicht gut genug kannte, um ihn einschätzen zu können. Obwohl sie ihn vor mehr als fünfundzwanzig Sommern geboren hatte, waren sie fast zwanzig Jahre getrennt gewesen. Erst vor einem Jahr war er nach all der schrecklichen Ungewissheit aus Kuba zu ihr zurückgekehrt. Genauso plötzlich, wie William Blake ihn ihr einst genommen hatte. Nun trauerte sie nicht mehr um das verlorene Kind, sondern um die verlorenen Jahre, die sie nicht gemeinsam mit ihm hatte erleben können.

      Jess war in der Zeit seiner Abwesenheit, die er als Sklave in Kuba verbracht hatte, zu einem erwachsenen Mann gereift. Und wenn Baba ehrlich war, so war ihr der eigene Sohn im Grunde ein Fremder. Immer noch spürte sie den furchtbaren Verlust, der sich mit unbändigem Hass mischte. William Blake trug an all dem eine Schuld, die er niemals zu sühnen vermochte.

      Und selbst jetzt gönnte ihr der eiserne Lord, wie sie William Blake seit jenen Tagen bezeichnete, keine Ruhe. Er gehörte zu den schlimmsten Verfechtern der Sklaverei und Jess zu ihren entschlossensten Gegnern. Mit aller Macht lehnte sich ihr Sohn gegen die weißen Herren auf und somit gegen seinen eigenen Vater.

      Als Jess vor knapp einem Jahr im Lager der Rebellen aufgetaucht war, um nach ihr zu suchen, hatte sie zunächst an ein Wunder geglaubt. Die Freude war grenzenlos. Alles wollte sie von ihrem Sohn wissen, einfach alles. Jess erzählte, dass sein spanischer Herr, Fernando de Montalban, ihm auf dem Sterbebett die Freiheit geschenkt und ihn über seine Herkunft aufgeklärt habe. Doch zu allem Unglück hatte der Neffe des Mannes die Plantage übernommen und die Freilassungsurkunde des Onkels nicht akzeptiert. Daher hatte sich Jess zur Flucht entschlossen.

      Trotz der immensen Gefahr war ihr Sohn nach Jamaika zurückgekehrt, um seine Mutter zu suchen. Hoch in den Bergen hatte er sie schließlich gefunden, in einem versteckten Rebellennest, das entrechteten, misshandelten und vom Tode bedrohten Menschen wie Baba Zuflucht bot. Jess war sofort in Catos Rebellenarmee aufgenommen worden, die für die endgültige Befreiung aller Sklaven kämpfte. Er besaß Mut, wie seine Mutter, und er war ein Kämpfer, wie sein Großvater, der einst aus Afrika hierher verschleppt worden war. Äußerlich hatte Jess nicht mehr viel von einem Afrikaner, er war ein Terzerone, der nur gut ein Drittel afrikanisches Blut in sich trug. Und doch war er trotz allem immer ein Sklave geblieben.

      Babas Blick fiel auf seine kräftigen Hände, die entspannt und präzise zugleich die Zügel des Maultiers hielten. Er war ein guter Mann, der Frauen und Kinder respektierte und schützte. Von seinem Vater hatte er den strengen Gesichtsausdruck eines Engländers. Heimlich verfluchte Baba die gerade Nase, die schmaleren Lippen und die leicht schräg stehenden Augen, wurde sie doch auf diese Weise immer wieder an das Scheusal erinnert, das ihn gezeugt hatte.

      Aber im Gegensatz zu William Blake und seinem Sohn Edward war Jess kein gelackter Dandy, der faul auf der Haut lag, während andere sich Hände und Füße blutig schufteten. Jess war ein harter Arbeiter, der keine Mühen scheute und seinem Herrn stets treu gedient hatte. Dass er von jesuitischen Mönchen das Lesen und Schreiben gelernt hatte und nicht nur Spanisch, sondern auch die englische Sprache beherrschte, machte sie stolz. Er war schon als Kind ein intelligenter Bursche gewesen, denn eigentlich war es Sklaven bei Todesstrafe verboten, Lesen und Schreiben zu lernen, geschweige denn sich mehrere Sprachen anzueignen.

      Überhaupt handelte Jess stets weitaus überlegter als Baba. Niemals hätte er ihr die Erlaubnis erteilt, das Rebellenlager heimlich zu verlassen. Schon gar nicht für ihre blödsinnige Zauberei, wie Jess ihre Gabe nannte. Deshalb hatte sie ihm auch nichts von ihren Plänen gesagt.

      Aber sie hatte es tun müssen. Sie hatte zurückkehren müssen nach Redfield Hall, um Jess zu rächen. Niemals würde ihr Sohn den Schmerz einer Mutter nachvollziehen können, der man das Kind und damit die Zukunft geraubt hatte. Eine unendliche Qual, als ob einem das Herz bei lebendigem Leib aus der Brust geschnitten würde. Tausendfach würde sie William und seinen verfluchten Sohn diesen Schmerz spüren lassen!

      Gedankenverloren strich sie Jess über die vernarbte Hand. Er ließ es geschehen, während er sein wendiges Maultier über die Bergkuppe und den Hang hinab in ein bewaldetes Tal lenkte.

      «Die Soldaten hätten dich getötet, wenn sie dich erwischt hätten», erklärte er mit rauer Stimme. «Oder man hätte dich später gehängt.»

      «Woher wusstest du überhaupt, wo ich war?», fragte Baba vorsichtig.

      «Desdemona», erwiderte er knapp. «Ich habe ihr angedroht, ihre Hütte abzubrennen und sie aus dem Lager zu werfen, wenn sie mir die Wahrheit verschweigt.»

      «Um Himmels willen, Jess! Wie kannst du es wagen?» Baba schlug die Hände vors Gesicht. «Sie ist eine Obeah-Zauberin. Eine heilige Frau! Was, wenn sie dich verflucht?»

      «Wenn sie dich bei einem solchen Unsinn unterstützt, kann sie so heilig nicht sein», spottete er. «Du kannst von Glück sagen, dass wir dich vom Berg aus am Rand des Bananenfelds gesehen haben. Madre mio»!,