Auch Rebekka Klein arbeitet Potentiale reformatorischer Theologie heraus, die »zu jeder Zeit neu Gestalt« annehme. Sie gewinne im Kontext politischer Theologie, insbesondere im gegenwärtigen Souveränitätsdiskurs, erneut Aktualität. Souveränität habe sich in der Moderne vom Souverän, von dessen Einheit und Sichtbarkeit, gelöst und in Verfahren, in Rechtstexte und Parlamente übersetzt, die den Souverän zwar zu repräsentieren beanspruchen, aber ihn nicht länger verkörpern. Rebekka Klein diskutiert die These Ulrich Halterns, die Stellung des politischen Denkens zur Souveränität verlaufe in den Bahnen der zwischen dem reformatorischen und dem altgläubigen (bzw. gegenreformatorischen) Lager umstrittenen Abendmahlstheologie: der substantiellen Wandlung von Brot und Wein einerseits (mit ihrem Gefälle zu Magie, Mythos und Ritual), der Prädominanz des Wortes andererseits (mit ihrer Tendenz zu entsinnlichtem Fideismus). Dieser Sichtweise setzt Rebekka Klein eine Relektüre von Calvins, auf Entspannung des Konflikts zwischen Zwingli und Luther gerichteter Abendmahlslehre entgegen, die sie als subversive Dekonstruktion von Souveränität interpretiert. Die Himmelfahrt Christi sei als Versetzung des Leibes des Souveräns an einen ganz anderen Ort eine heterotopische Denkfigur, die auf bleibenden Entzug ausgerichtet sei. In dieser Konstellation erweise sich ein klassisches Lehrstück reformierter Theologie als transformative Kraft der politischen Theologie unserer Gegenwart.
Am Gegenüber von Luther und Melanchthon interessiert Cornelia Richter der Übergang von einem erfahrungsbezogenen und auf aktuelle Probleme fokussierten theologischen Denken zu einer Theologie, die der philosophischen Präzisierung fähig sei und über das Momenthafte hinausführe, weil sie auf interdisziplinäre Kontexte der Universität referiere. Lebensnahe Glaubensreflexion bestimme freilich den Stil beider Reformatoren; vor allem die Affektenlehre Melanchthons zeige, dass seine Charakterisierung als Systemdenker und erster Dogmatiker des Protestantismus einseitig bleibe. Indem Melanchthon den evangelischen Glauben und mit ihm die reformatorische Theologie anthropologisch dechiffriert und fundiert, rückt er einen Zusammenhang ins Licht, der für die weitere Geschichte protestantischer Theologie wegweisend und charakteristisch ist. Spätere Transformationsgestalten evangelischer Theologie gründen in dieser Wittenberger Konstellation. Die Aufgabe, das Verhältnis von affectus, voluntas und ratio zu bestimmen, führe jedoch auch in Melanchthons eigenem Werk zu immer neuen Varianten theologischer Reflexion und münde gleichsam in einer Subjektivitätstheorie avant la lettre.
An der aktuellen Präsenz der Rede vom Erfolg (nicht nur in sogenannter Beratungsliteratur, sondern auch in der wissenschaftlichen Ethik, in der evangelischen Theologie und insbesondere in Programmen kirchenleitenden Handelns) verdeutlicht Christoph Seibert einen Bedeutungswandel im Selbstverständnis handelnder Subjekte. Man könnte auch sagen: Seibert rekonstruiert den Erfolg des Erfolgs in der Selbstbeschreibung der Handelnden. Der Übergang von der konsequentialistischen Identifikation der Folgen eigenen Handelns (dessen, was aus Handeln erfolgt) zu einer an Prämien und Boni orientierten Gewinn- oder Verlustberechnung transformiere das Verständnis rationalen Handelns, lege aber auch religiöse Dimensionen humanen Selbstverständnisses frei. Wie mit Erfolg oder Scheitern, mit Kontingenz und Unkontrollierbarkeit des Lebens umgegangen wird, werfe die Frage nach der Ungewissheit in einer neuen Form wieder auf, die nach Max Weber die protestantische, näherhin die reformierte Mentalität entscheidend bestimmt habe. Webers Diagnose müsse nicht als kausale These zur Genese des Frühkapitalismus gelesen werden, sondern behalte einen anthropologisch-handlungstheoretischen Sinn. Handelnde suchen Erfolg und also auch nach Wegen, wie ihnen noch das Scheitern gelingen könnte. Die reformatorische Theologie kann als Analytik dieser conditio humana gelesen werden, aber als auch als produktive Bearbeitung der modernen Situation.
André Munzinger beschreibt »Konflikte kultureller Transformationsprozesse« vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Migrationsbewegungen. Diese verstärkten die Veränderungen wie auch deren Konfliktpotentiale, verursachten beide aber nicht. Denn zur Kultur (auch zur islamischen Religionskultur) gehörten Transkulturalität, fließende Übergänge und kulturelle Mischformen – wie ja auch die protestantische Konfessionskultur auf fortwährende Reformation angelegt sei. Kultur tradiere sich in der Spannung von Labilisierung und Stabilisierung personaler wie kollektiver Identitäten. Diese wahrzunehmen und auszutragen gehört zu den Orientierungsleistungen evangelischer Theologie.
Philipp David erinnert in seinem Beitrag an Uneindeutigkeiten der Rede vom Tod Gottes. Sie sei Motiv, Denkfigur, Metapher, Ereignis, Lebensgefühl und könne sich als Zeitdiagnose, als Ausdruck einer Grundlagenkrise, als Werteverfall, als Erfahrungsverlust oder als Revolutionierung des Gottesbildes präsentieren. Statt sie christologisch zu integrieren oder als Dekonstruktion von Allmacht in Dienst zu stellen, komme es darauf an, ihr Irritationspotential festzuhalten – sei und bleibe diese Rede vom Tod Gottes doch eine lebendige Metapher. Der Autor skizziert einen Abschied von der Kosmologie, der Schöpfungstheologie durch eine Anthropologie ersetzt, in der die Erdverbundenheit des Menschen im Blick bleibt und als Bewusstsein erschütterter Endlichkeit ausgelegt wird. Die Frage, ob dieses Deutungsangebot als Transformation reformatorischer Theologie erkennbar ist, entschärft sich, wenn Theologie, wie David vorschlägt, sich darauf fokussiert, religiöse Vorstellungen wissenschaftlich aufzuklären.
Wege der Transformation reformatorischer Theologie zu einer kritischen Bildreligion bahnt der Beitrag von Malte Dominik Krüger. Vor dem Hintergrund der als Bildtheorien verstandenen Bildwissenschaften skizziert Krüger einen negationstheoretischen Bildbegriff, der sich mit Luthers Rede von den Bildern wie mit dessen Kreuzes- und Rechtfertigungstheologie verbinden lässt. Martin Kähler und Paul Tillich haben (in Anschluss an Schleiermacher) die zentrale Stellung des Bildes Jesu in der Rezeption der Evangelientexte erkannt, so dass es sich nahelegt, die von ihnen gelegte Spur im Dialog mit gegenwärtigen Bildanthropologien (Belting) und Sprachwissenschaften (Tomasello) aufzunehmen, nicht zuletzt im Interesse der dogmatischen Kategorie der Gottebenbildlichkeit, in der sich Anthropologie und Christologie verbinden. Im Gegenüber einer durch Bilder bestimmten Medienkultur erweise sich der Protestantismus als eine Religion selbstkritischen, freiheitsaffinen Umgangs mit Bildern. Sie mache den Bildbezug aller Religionen zum Gegenstand ihrer eigenen Symbole, so dass in Anlehnung an die Unterscheidung zwischen Material- und Formalprinzip des Protestantismus einerseits die Rechtfertigung des Gottlosen im Streit der inneren Bilder entfaltet, andererseits die Schriftlehre an Bildlichkeit orientiert werden kann. Der iconic turn erscheint als Ferment einer Transformation evangelischer Theologie, durch den diese ihren Aktualitätsanspruch zur Geltung zu bringen sucht.
Gesche Linde bestreitet in ihrem Beitrag sowohl die Einschlägigkeit des Transformationsbegriffs wie auch die von Ulrich Barth und anderen neuzeittheoretisch begründete Verabschiedung der Theologie von der Kosmologie. Altprotestantisch vorbereitet in der Konzentration des Schöpfungsglaubens auf das Verdanktsein des je eigenen Lebens, habe die neuprotestantische Theologie seit Schleiermacher, so lautet die einschlägige These, auf Ansprüche der Welterklärung zugunsten eines Verständnisses von Religion als Lebensdeutung verzichtet und damit Ursprungsvorstellungen in Endlichkeitsreflexionen transformiert.47 Linde führt diese protestantische Selbstbeschreibung auf Blumenbergs Reformationsdeutung zurück und kritisiert Letztere sowohl aus historischen wie aus systematischen Gründen. Die Schöpfungstheologie Luthers spreche eher gegen als für Barths These. Denn in ihr gehe die Allwirksamkeit Gottes tendenziell zu Lasten einer natürlichen Erklärung von Ereignissen, eine wahre Einsicht in die Abläufe der Natur vermittele allein der Gottesglaube und darum letztlich die Theologie. Entsprechend weite Luthers Zurückweisung des kopernikanischen Weltbilds mit dem Hinweis auf Josua 10 das Schriftprinzip auf jedwede Wissenschaft aus, so dass die Autorität des Wortes Gottes die Naturwissenschaft nicht freisetze, sondern zu dirigieren suche. Lindes reichhaltige Sammlung von Lutherzitaten unterstreicht, dass Luther ein mittelalterlich geprägter Mensch war, dessen Lebenswelt und Theologieverständnis nicht mit den Positionen verwechselt werden darf, für die er heute herangezogen wird. Statt von kontinuierlicher Transformation von Theologiegestalten möchte sie lieber vom definitiven Bruch und unüberwindbaren Graben zwischen Rationalitätskulturen sprechen, die unterschiedlicher nicht sein können.