Zugleich habe sich Neues herausgebildet: ein Wahrheitsbewusstsein, das intellektuelle Redlichkeit mit Forschungsdrang und Entdeckerlust verbindet, die Freiheit eines Verstandes, der selbst einsehen, und eines Willens, der (sich) selbst bestimmen will. Autonomie im theoretischen wie im praktischen Sinne, mit ihr auch Gewissens- und Religionsfreiheit, schüttelt die Autoritäten als Hüter der Traditionen ab. Es resultiert eine Situation der Bodenlosigkeit,10 in der die zertrümmerten11 Gewissheiten den aufgekommenen Zweifel in den Sog existentieller Verzweiflung ziehen. Das Bild, das auf diese Weise entsteht und das Hirsch nicht müde wird, in immer neuem Farbauftrag zu präsentieren, ist eine unverkennbare Kopie derjenigen Selbstinszenierung neuzeitlicher Rationalität, wie sie Descartes in der ersten und am Anfang seiner zweiten Meditation bietet. Es handelt sich um eine (lebens-)geschichtliche Stilisierung, um die Präsentation einer idealtypischen Situation, welche die Genese und den Kontext der Leitfragen auch verschleiert. Denn die Krisenbeschreibung erfolgt immer schon im Blick auf die Lösung, die der Autor (Descartes genauso wie Hirsch) vorbereitet. Mit den historischen Bedingungen der Moderne hat die Beschreibung wenig, mit programmatischer Illustration und rhetorischer Zuspitzung umso mehr zu tun.
Dass die Krisendiagnostik glaubwürdiger erscheint als die Tradition, verdeckt interne Ambivalenzen des Umformung-Programms. Hirsch orientiert sich einerseits an Entwicklungen, die der (christlichen) Religion ohnehin widerfahren, sei diese doch zu »immer neuen geschichtlichen Wirklichkeiten […] ein Verhältnis eingegangen«12, so dass sie Veränderungen sowohl im Stil der Frömmigkeit wie in der Lehre freisetzen konnte.13 Neben dieser passivischen Bestimmung ist Umformung andererseits aber auch Tätigkeit und eine der Theologie gestellte Aufgabe, so diese nur ihrer Gegenwart Rechenschaft zu geben willens und in der Lage ist. Umformung! ist sozusagen ein reformatorischer Appell, mit dem Hirsch eine in den dogmatischen Schlummer gefallene Theologengeneration aufzuwecken sucht. Zum Markenkern seines Unternehmens gehört es, dass der Autor genau zu sagen weiß, auf welchen Zweck Umformung hinauswill: »Niemand möge die Frage, ob unser Völkerkreis sich das geschichtliche Verhältnis zum Christentum erhält oder nicht, leicht nehmen. Es ist eine Frage auf Leben und Tod […]. Sollte das Christentum wirklich eine verwesende Leiche sein, so hätten die Völker unsers Kulturkreises, auch unser Volk, eine seelische und geistige Krise vor sich, deren lebensbedrohende Auswirkungen niemand von uns auch nur von ferne ahnen oder ermessen könnte. Die Umformung des Christentums zu einer unserm Denken und Leben gemäßen Gestalt wäre auf jeden Fall ein Weg, […] das Geschick und die Vollmacht der weißen Völker […] zu bewahren. Die Verantwortung aber, daß dieser Weg möglich wird, liegt auf den […] deutschen evangelischen Christen, die am tiefsten in der Umformungskrise drinstehen und trotz allem immerhin noch am wenigstens gegen sie sich verstockt haben«14. Man muss die Wortstellung nur leicht variieren, um zu ahnen, dass Hirsch die »unserem Denken und Leben gemäße Gestalt« des Christentums bei den evangelischen Deutschen Christen finden wird.
Es ist in diesem Zusammenhang nicht nebensächlich, dass Hirsch die von Schleiermacher und Tillich beschriebene und von beiden systematisch in Anspruch genommene Wende der Religion gegen sich selbst15 als ein für das Christentum wesentliches Element auszeichnet. Die Angel, um die sich die zukünftige Veränderung drehen soll, liegt freilich nicht in der Positivität einer Religion, die Religion zum Stoff der Religion macht (wie bei Schleiermacher) oder in der Bedingtheit ihrer jeweiligen Gestalt, die vom Unbedingten erschüttert wird (wie bei Tillich), sondern in dem Vorschlag, dass sich das Christentum von seiner jüdischen Herkunft zu befreien habe. Hirsch erklärt dazu: »der entstehende christliche Glaube findet einen geprägten Ausdruck seines Wesens an ihm unangemessenen, fremdartigen Material. Er muß das schlechthin Neue, das er ist, mit Elementen eben der alten Religion, gegen die er polemisch ist, sagen […] er ist polemisch wider eben das, dessen er bedarf, um es zu klarer geschichtlicher Ausprägung zu bringen. Hieraus ist die tiefe Unruhe der christlichen Religion entsprungen: sie bleibt das, was sie sein will, Ausdruck des Glaubens an das Evangelium, nur dann, wenn sie gegen ihre eigene Gestalt, in der sie dieser Ausdruck allein sein kann, fort und fort das Nein richtet, das vom Evangelium ausgeht wider alles zu Gesetz Werden des Gottesverhältnisses […] Darum darf christlicher Glaube sich nie mit seiner Geschichtsgestalt versöhnen und in ihr gleichsam für ewig zur Ruhe kommen«16. Der letzte Satz verdiente, im Lichte Schleiermachers und Tillichs gelesen, Zustimmung, jedoch wirft es bezeichnende Schatten auf Hirschs Begriff der Umformung, dass er das kritische Verhältnis des Christentums zu sich selbst als Abrogation des Alten Testaments bzw. des Judentums, mit dem es notwendigerweise fremdle, beschreibt. Konsequenterweise ist »die Umformungskrise« deshalb »zur Krise des Verhältnisses unsers Volks zur christlichen Religion herangewachsen«17 und gilt als »Stätte der Entscheidung« zwischen Abendland und Christentum »das Deutsche Volk«18, denn nur es verbinde auf der Linie Jesus, Paulus, Luther, und im Gleichklang mit Aufklärung und Idealismus, den christlichen Glauben mit einem neuzeitlichen Wahrheitsbewusstsein. »Die von Luther so scharf herausgearbeitete Antithese des Evangeliums wider die Gesetzesreligion hat an der Aufhellung des Gegensatzes Jesu gegen den jüdischen Glauben und Dienst eine feste geschichtliche Grundlage erhalten. Wir können heute das Verhältnis des christlichen Glaubens zur alttestamentlich-jüdischen Religion überschauen und aus ihm das Wesen des Evangeliums klarer herausarbeiten als alle christlichen Generationen vor uns« – wirke doch die historisch-kritische Forschung »als ungeheure Befreiung des christlichen Glaubens von solchen Elementen […], die für unser heutiges Wahrheitsbewusstsein untragbar sind« und ermögliche so allererst »eine positive Voraussetzung für die Umformung christlichen Glaubens und Lebens […] Aus dieser Umformung wird eine Gestalt christlichen Glaubens erstehen, die das Evangelium reiner als die alten Gestalten widerzuspiegeln vermag«19.
Es lässt sich kaum leugnen, allenfalls verdrängen, dass die prima facie kritische Spitze der Umformungs(krisen)semantik trotz aller Bezugnahmen Hirschs auf Wissenschaft, Vernunft und Moderne dem Christentum den Weg in den Nationalsozialismus weist. Hirschs Ausführungen zum Wesen des Christentums kulminieren denn auch in einem Anhang, der, mit allen Mitteln der zeitgenössischen historisch-kritischen Forschung gewaschen, einen Arier-Nachweis für Jesus von Nazareth zu geben versucht. Eilert Herms hat darauf bereits aufmerksam gemacht: »Mit Hirschs Bild der Umformungskrise der Neuzeit werden unvermeidlich diejenigen Überzeugungen Hirschs thematisch, die seinem Engagement für die nationalsozialistische Bewegung zugrundelagen«20. Diese zutreffende Feststellung impliziert freilich nicht, dass es keine Transformationsprozesse oder keinen Bedeutungswandel im Spannungsfeld von Christentum und Moderne gäbe oder dass dieser Frage gewidmete Analysen von Haus aus faschistoid wären oder mit einer solchen Behauptung auch die diagnostizierten Krisen selbst überwunden werden könnten. Festzuhalten ist nur, dass auch die Beschwörung des neuzeitlichen Wahrheitsbewusstseins die Theologie nicht davor schützt, sich gerade dort ideologisch zu gebärden, wo sie sich selbst für kritisch hält.
Der in diesem Band teils explizit