Vor allem im Rahmen der Ethik mag es gelegentlich so scheinen, als ob die Transformation des Reformatorischen die historischen Bezüge virtualisierte. Die Berufung auf reformatorische Hauptworte (Freiheit, Liebe, Berufsarbeit, Amt, Dienst), auf die Weltlichkeit der Handlungen, die politische Vernunft oder das Gewissen der Einzelnen erscheint dann als Residuum der Ausbildung protestantischer Profile bzw. der Bewährung evangelischer Perspektiven, während die Handlungsfeldanalyse und Normenreflexion sich an heterogenen Kontexten und Maßstäben orientiert. Will man diesem Eindruck begegnen, wird man sich über die (sit venia verbo!) Transformationsgrammatik verständigen müssen. Ohne eine solche Verständigung kann nicht nachvollzogen werden, welche Umgestaltungskräfte zur evangelischen Lehre bzw. zur protestantischen Tradition gehören und welche nicht. Weicht man dieser Verständigungsaufgabe aus, so verfängt man sich in Unbestimmtheitsschleifen wie denen des Säkularisierungsdiskurses, in dem noch alles, was in der Moderne Rang und Namen hat, irgendwie auf die reformatorischen Anfänge zurückgeführt worden ist. Historischer Blick für die Konstellationen der Reformationszeit und Aufklärung über die transformativen Kräfte ihrer Theologie sind also gleichermaßen erforderlich.
I.
Der Begriff der Transformation ist dem Begriff der Umformung, den Emanuel Hirsch von Richard Rothe4 und Ernst Troeltsch5 übernimmt und den er in den dreißiger Jahren in den Mittelpunkt seiner Theologie stellt, sprachgeschichtlich und sachlich benachbart. Das Verhältnis der in diesem Band gebrauchten Terminologie zu Hirschs Theorieprogramm ist deshalb einleitend zu klären, ohne eine Verbindlichkeit für die in ihm gesammelten Beiträge suggerieren zu wollen. Wichtig ist freilich, dass es auch in Hirschs Umformungstheorem vor allem um ein gegenwärtiges Verhältnis zur reformatorischen Theologie geht. Umformung ist bei Hirsch zunächst eine Art Normalfall der Religionsgeschichte (der Antike nicht weniger als der Moderne). Denn zur Geschichtlichkeit der Religion gehöre ihr Wandel, zur kulturellen Prägung der Religion ihre innere Bezogenheit auf (sich ändernde) soziale Ordnungen. Unter Umständen versteht sie sich auch selbst als transitorisch, als religio viatorum. Überlieferung und Aktualität, traditionelle Formen und gegenwärtige Lebenswelt, Bewährtes und Neues stehen jedenfalls in einer Spannung und fordern zu Anpassungs- und Veränderungsprozessen heraus. Sogar eine Kirche, welche die ihr von Gott selbst anvertrauten ewigen Wahrheiten ihrem Selbstverständnis nach nur zu explizieren braucht, leugnet seit nunmehr einem halben Jahrhundert den Bedarf an Inkulturation und Aggiornamento nicht, will auf Herausforderungen sich verändernder Umwelten reagieren, um sich so als lebendig zu erweisen. Wenn selbst eine dogmatisch, kirchenrechtlich und liturgisch gehärtete Institution wie die römisch-katholische Kirche die Dynamik von Umformungsprozessen anerkennen kann, überrascht es nicht, dass unbeaufsichtigte Religionsformen den permanenten Aneignungs- und Abstoßungsprozess synkretistisch bewältigen. Religionen als sozio-kulturelle Gestalten verfügen über Plastizität, aufgrund derer Formung und Verformung beständig ineinandergreifen. Genau das macht das Phänomen der Umformung, deskriptiv betrachtet, aus.
Transformation bestimmte, Hirsch zufolge, bereits die Geschicke der alten Germanen: »das Schicksal hat es so gefügt, daß die Germanen nicht frei aus Eigenem sich eine Gestalt des Christentums und der Kirche aufbauen konnten, sondern in eine äußerlich und innerlich ausgeformte Kirche eintraten. Sie mußten ihr eigenes Christentumsverständnis in mühseliger Umdenkung und Umformung einer ihnen fremden Geschichtsgestalt christlichen Glaubens ausdrücken«6. Sie »mußten« das – aus prinzipiellen Gründen (weil die vorgegebene, äußerlich und innerlich ausgeformte Kirche heteronom bliebe, wenn es der Religion nicht gelänge, im Prozess der Aneignung auch das Eigene zur Geltung zu bringen) und aus historisch kontingenten Gründen (weil die Sprache, die Vorstellungswelten und Sozialstrukturen der germanischen Sippen durch kulturelle Hegemonie Roms entfremdet wurden). Übersetzungen sind ein Paradigma für die nötigen Umformungen: Sie ersetzen nicht bedeutungsidentisch Worte durch andere Worte, sondern variieren den Sinn (ohne ihn freilich ins Beliebige aufzulösen). Man könnte auch sagen: Gerade weil Religionen kulturell codiert, ihre Sprachen mit Lebensformen verwoben sind, unterliegen sie Veränderungen, passen sie ihr Welt- und Selbstverständnis den wechselnden Plausibilitätsstrukturen an.
Umformung ist also ein Strukturmerkmal religiöser Dynamik, das in den geschichtsbewussten Religionen auch eigens thematisiert werden kann. Dieser grundsätzliche Prozess stellt sich nun freilich anders dar, wenn der lange ruhige Fluss sich ablösender Erscheinungen in Turbulenzen gerät. Das Säkularisierungstheorem bietet für die Analyse veränderter Strömungsverhältnisse ein prominentes Beispiel: Es begreift die langfristigen Prozesse der Umformung von einem Ende her, von einem Erschöpfungszustand aus, in dem sich das Ursprüngliche nicht länger gegenüber dem Gefälle behaupten kann, so dass Veränderung zu Lasten des Umgeformten und also auf Kosten des Ausgangspunkts eintritt. Unabhängig von der Frage, ob Säkularisierung geisteswissenschaftlich als Übertragung einer ursprünglich religiösen Idee in einen weltlich konstituierten Zusammenhang oder soziologisch als Ausdifferenzierung sozialer Systeme beschrieben wird, unterstellen Säkularisierungstheorien Umformungen, die ihre Kontinuität verspielen und in Auflösung und Katastrophen geraten. Gehörte zur allgemeinen Beschreibung von Transformation, dass eine Religion ihre traditionalen Formen mit der Zeit durch neue Gestaltungen ersetzt, so kommt nun eine letzte und definitive Veränderung in den Blick, an der die Gestaltungskraft abklingt und unter Umständen gänzlich erlischt. Diese These eines kontinuierlichen Bedeutungswandels wird also krisentheoretisch eingefärbt. Man darf es einen Grenzwert des Umformungstheorems nennen, wenn die Figur permanenter Wandlung in die Erschöpfung der Wandlungskräfte überführt wird.
Emanuel Hirsch denkt Umformung nach Maßgabe einer solchen Umformungskrise. Seine Beschreibung des Geschichtsverlaufs nutzt die Plausibilitäten historischer Analysen, um diesen eine geschichtsphilosophische, ja man wird sagen müssen: apokalyptische, Unterschicht zu verpassen. Bei Hirsch zielt die Beschreibung von Transformation auf ein Ende aller Dinge, auf eine letzte Phase und Krise des Christentums, in der dieses »die überkommenen Gestalten christlichen Denkens und Lebens, auch die altevangelischen, über den Haufen« werfen und sich der Gegenwart stellen muss – oder aber es wird untergehen: »Das Christentum muß also entweder sterben oder sich in eine Geistes- und Lebensgestalt hinein umformen, in der es dieser Rechenschaft [sc. der von Hirsch entworfenen Aufgabe der Rechenschaft vor einem sich als autonom begreifenden europäischen Menschentum] gewachsen ist«7. Es entspinnt sich eine Geschichtserzählung, die nicht nur enddramatisch angelegt ist, sondern ohne ihre appellativ-rhetorischen Dimensionen nicht funktionsfähig wäre.
Der Singular Umformungskrise ist deshalb für Hirschs Theorieanlage unverzichtbar. Von vielfältigen Krisen im Plural und deren jeweiliger Überwindung soll und kann nicht die Rede sein, für alltägliche Variantenbildungen ist kein Raum. Vielmehr geht es um eine einzige Krise, mag diese sich historisch auch durchaus weitläufig erstrecken, sich aus den Tagen der Reformation speisen, mit der Aufklärung in ihre Inkubationsphase eintreten und schließlich, jedenfalls in Deutschland, mit der Mitte des 19. Jahrhunderts offen ausbrechen.8 Unvergleichbarkeit mit Umformungsroutinen ist für die Diagnostik ausschlaggebend.
Als Krisenfaktoren gelten Hirsch der Verlust aller Selbstverständlichkeiten, das Hervortreten und Überhandnehmen eines Zweifels, der alle Gewissheiten, die früher die christliche Religion zusammenhielten, mit