Die Doppelfrage nach den Antagonismen, die faktisch wirksam, und den Alternativen, die möglich waren, bearbeitet die Konstellationsforschung im Spannungsfeld von historischer Interpretation und systematischer Rekonstruktion – was sie zugleich als Sache philosophischer Reflexion auszeichnet, die nach Argumenten und deren Geltung fragt. Die Spannung zwischen historischer Genauigkeit und systematischer Stringenz erfordert einen Seiltanz, wobei dieses Bild eines Protagonisten der Konstellationsforschung auch an den Abgrund denken lässt, in den stürzt, wer die Balance nicht hält oder unter dessen Bewegungen die gegeneinander gerichteten Kräfte die Spannung des Seils lösen.42 Wie sich Quellenforschung und Geltungsfragen vermitteln, lässt sich nicht generell entscheiden, sondern hängt auch an individuellen Interessen und Perspektiven der Interpreten.
Zugleich ergibt sich – über das oben Notierte hinaus – eine Nachbarschaft zwischen solcher Konstellationsforschung und dem, was ich oben Transformation nannte. Denn Dieter Henrich und seine Mitstreiter beschreiben die formative Phase einer Konstellation als ein bewegliches Feld von Leitgedanken, unter denen die Überzeugungen und Fragen philosophischer Autoren beeinflusst, geprägt und umgeformt werden. Die »Transformation […] eines Denkraums« ist ein »bedeutende[s] Thema der Konstellationsforschung«43. Fragt Letztere nach den aktuellen Potentialen philosophischer Theorien, öffnet sie diese einer kritischen Umformung unter den Bedingungen der Gegenwart.
Damit deutet sich an, warum es sinnvoll erscheinen kann, das Leitmotiv eines philosophischen Forschungsprogramms auch auf Themen der Theologie,44 vor allem aber – wie in diesem Band – auf die Genese reformatorischer Theologien anzuwenden. Denn es ist offensichtlich, dass in den Jahren nach 1517 eine intensive, durch die zeitgenössischen neuen Medien vermittelte Kommunikation entstand, von der man – wie von der nachkantischen Situation – sagen kann, dass sie »von einer identischen oder ähnlichen Problemlage bestimmt« war und »eine Vielzahl kreativer Entwürfe in schneller Abfolge« hervorbrachte,45 dass sich die an der öffentlichen Debatte Beteiligten wechselseitig anregten, aber auch solche Konflikte untereinander auslösten, die zur Ausbildung eigener Positionen durch Abstoßung und Distanznahmen beitrugen. Da reformatorische Theologie mehr und vor allem anderes ist als (die allmähliche Entwicklung und öffentliche Entfaltung von) Luthers Denken, mehr auch als die Ausprägung einer reformatorischen Wende im Leben des Wittenberger Bibelauslegers mit Folgen für Kirchenreform und Weltpolitik, legt sich eine Weitung des Blicks über die Individualbiographie und Werkgeschichte hinaus nahe. Was Luther auf den Weg brachte, wurde durch die Resonanz, die er fand, mitgeprägt und geformt, weshalb man die Verbreitung seiner Gedanken nicht nur an der Geschwindigkeit von Druckerpressen messen kann, sondern auch an der Bereitschaft, Resonanzen in eigener Zuspitzung aufzunehmen und umzuprägen. Die Selbstpositionierungen von Luthers Fakultätskollegen und die Reaktionen anderer Universitäten, Städte und Stände setzten Bewegungen frei, für deren Erfassung es unzureichend ist, sie über den Leisten individueller Autorschaft zu schlagen.
Von Konstellationen reformatorischer Theologie zu sprechen, legt sich aber nicht nur im Blick auf die miteinander kommunizierenden Reformatoren und die von ihnen diskutierten Themenkomplexe nahe,46 sondern entspricht auch dem Interesse der systematischen Theologie an den heute verantwortbaren Gestalten evangelischen Glaubens und christlicher Theologie. Die systematische Rekonstruktion der reformatorischen Theologie erfolgt im Horizont der Geltungsfrage, ob und gegebenenfalls wie sich die Sache der Reformation (im Kontext aktueller akademischer Forschung, gegenwärtiger kirchlicher Praxis oder in existentieller Selbstverständigung) aufnehmen und fortsetzen, also eine gegenwärtige evangelische Theologie in eigener Verantwortung vertreten lässt. Dieses systematische Interesse im Verbund mit historischer Aufklärung rückt die Arbeit der Theologie in Nachbarschaft zur Konstellationsforschung der Philosophie – selbst wenn die inhaltlichen Themen und Kontexte anders gelagert sind.
Es war das Interesse der in diesem Band dokumentierten Zusammenarbeit der Fachgruppe Systematische Theologie innerhalb der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie e.V., das Reformationsjubiläum 2017 vom vielzitierten Luther-Jahr (unter dessen Titel es dann doch begangen wurde) abzuheben, die Beziehungen zwischen den reformatorischen Theologien, ihre Dissonanzen wie ihre Abständigkeit gegenüber unserer Zeit, aber auch ihre Produktivität für gegenwärtige Anknüpfungen auszuloten. Dieses Interesse verbindet die Beiträge (sie werden im nächsten Abschnitt noch knapp präsentiert), nicht die Einheitlichkeit einer Terminologie oder eine programmatische Ausrichtung und schließlich auch nicht eine Koordination von Forschungsarbeiten von langer Hand. Der Titel des Buches ist bescheidener, weil exemplarisch und tentativ gemeint, und die Beitragenden, Mitglieder wie Gäste der Fachgruppe, operieren selbständig und ohne Vereinigungszwang.
V.
Die Ausrichtung aller Themen der Theologie an einer allernötigsten Frage, sei es die nach der Gerechtigkeit Gottes oder die nach der Vergebung der Sünden, begreift der diesen Band eröffnende Beitrag als Kennzeichen reformatorischer Lehrbildung. Wenn im Blick auf sie Gewissheit entsteht, bilde sich ein Gravitationsfeld, in dem andere Lehrstücke (loci) loziert werden können. Die Themen der Theologie werden auf diese Weise konstelliert, sie erhalten eine kommunikative Ordnung, wie Walter Sparn in seinem Beitrag darlegt. Die protestantische Eigenart solcher Gewissheit färbt sich an ihrem Verhältnis zu Wort, Schrift und Erfahrung ein und setzt zugleich Polyvalenzen frei, die die Vielfalt reformatorischer Theologien begründen und ausmachen. Schon in der Reformationszeit, erst recht in der ihr folgenden konfessionellen Ausdifferenzierung blieb strittig, ob Gewissheit durch den Erwählungsgedanken gestützt oder im Gegenteil verstellt und verbaut wird. Diese Frage kann auch auf Transformationsgestalten gerichtet werden, welche den Glauben als Wiedergeburtsgewissheit oder in Nachbarschaft von belief, Urvertrauen und existentieller Daseinsgewissheit als unbedingte Gewissheit denken und beschreiben. Sparn zeigt, welche Verschiebungen und Verluste sich ergeben (können) und legt dar, warum er den Anspruch unbedingter Gewissheit für problematisch, ja aporetisch hält. Jedoch erklären sich noch die kritisierten Transformationen aus Konstellationen, die Veränderungsdruck erzeugen: etwa der neuzeitlichen Beziehung von Glauben und Wissen, von Religion und Rationalität oder von Subjektivität und Erfahrung. Sparn skizziert eine Phänomenologie der christlichen Gewissheit, die der Anfechtung, der Nicht- Identität, dem Zusammenhang von Affektion und Kognition, aber auch der semiotischen Verfasstheit medialer Wirklichkeit besser gerecht werden könne als die kritisierten Unbedingtheitsfiguren im Raum der Subjektivität.
Reformierte Theologie ist nach Michael Beintker (unabhängig von ihrem geographischen Vorkommen) typischerweise eine westeuropäisch orientierte reformatorische Theologie. Sie ist presbyterianisch, kongregationalistisch, synodal und in ihren Bekenntnissen plural verfasst und außerdem sozialethisch, anti-hierarchisch und autoritätskritisch orientiert. Lutheraner erscheinen mit ihr verglichen »als auf halbem Wege stehen gebliebene Evangelische«. Insofern gilt die reformierte Theologie als eine erste Transformations- und Modernisierungsgestalt der Reformation, die zudem innovativ auf Veränderungsdynamiken im heutigen Europa zu reagieren vermag und sich von bloßem Konfessionalismus abhebt. Die Arnoldshainer Abendmahlsthesen und auf ihrer Basis die Leuenberger Konkordie werden als Hinweise auf die protestantische Bereitschaft zu Veränderung und Annäherung dargestellt, und es wird gezeigt, wie sich traditionelle Gestalten der Lehre mit der Überwindung von Substanzontologie und platonischem Dualismus oder mit Barths Revision der Erwählungslehre verändern. Der Gegensatz zwischen Luther und Zwingli wurde durch Calvin entschärft und so die Konstellation verändert. Der Heidelberger Katechismus steht für