II.
Der Begriff der Transformation erscheint bei Karl Polanyi (1886–1964) als geschichtsdiagnostische, kapitalismuskritische Kategorie und zwar gesteigert als »The Great Transformation«21 (1944). Es dürfte sich begriffsgeschichtlich um eine Analogbildung zum Great Awakening handeln. Nur ist die Umbruchsmetapher bei Polanyi primär negativ getönt: Er beschreibt eine »verheerende Umwälzung«22, die mit der Bekehrungstheologie die zeitliche Bestimmung des Plötzlichen teilt23 und den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems gleichsam als Ausdruck der contritio cordis auf der Schwelle zum Heil loziert. Zur Transformationsmetapher gehört bei Polanyi wesentlich ein Index der Beschleunigung: »Das Tempo einer Veränderung ist oft nicht weniger bedeutsam als ihre Art«24 und »ergibt im Vergleich mit dem Tempo der Anpassung den Nettoeffekt der Veränderung«25. Diagnostisch geht es insofern um ein schlagartiges Freisetzen von Kräften, das durch ein entbettetes Marktprinzip ausgelöst werde und das einen europaweiten Untergang nach sich ziehe. Der zeitgenössische Faschismus wie der um ihn tobende Weltkrieg sind für Polanyi die sachgemäßen Resultate eines auf Arbeit, Boden und Geld übergreifenden Marktprinzips, das alles (eben auch diese allgemeinen Ressourcen) zur bloßen Ware herabsetzt. Die Transformation ist daher nicht nur groß, sondern auch total, der Durchbruch einer alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens bedrohenden Verdinglichung: »Die Transformation der vorangegangenen Wirtschaftsform in das neue System ist so total, daß sie eher der Verwandlung der Raupe in einen Schmetterling gleicht als jegliche andere Veränderung, die sich in stetem Wachstum und Entwicklung äußert«26. Im Sinne von Polanyis Generalthesis wäre die Metaphorik einer (Rück-)Verwandlung des Schmetterlings in eine Puppe wohl zutreffender. Denn dem Leben werden die Flügel beschnitten, wenn es unter die Botmäßigkeit sich selbst regulierender Märkte gerät. Entscheidend aber ist die begriffliche Pointe: Transformation ist hier nicht eine Angelegenheit der Reform, sondern des revolutionären Umsturzes.
Trotz emphatischer Beschreibungen etwa des Handels auf den Trobriandinseln, der Reziprozität der Gaben und Gegengaben,27 zielt Polanyi nicht auf eine Rückkehr zur Natur oder auf eine andere Implementierung rousseauistischer Sozialutopien. Eher hofft er auf eine zukünftige Umstellung, die als Rückeroberung der Lebenswelt zu beschreiben wäre. Der Autor suggeriert, dass auf die große Transformation eine noch größere folgen könne: »Den Faktor Arbeit aus dem Markt herauszunehmen, bedeutet eine ebenso radikale Transformation, wie es die Errichtung des wettbewerbsbestimmten Arbeitsmarktes gewesen war«28. Auch bei Polanyi schließt, was Transformation heißt, eine geschichtsphilosophische Dimension ein: Das Marktprinzip sei oktroyiert, es scheitere in einer Geschichtskatastrophe und löse die »nachchristliche Ära der westlichen Zivilisation«29 aus. Ihr bleibt gleichsam residual die Hoffnung auf eine ganz andere Form der Veränderung eingeschrieben. Der dritte Teil des Buches trägt denn auch die Überschrift »Die Transformation schreitet fort« (als habe der Autor Schleiermacher im Ohr) und zeichnet die Utopie einer Gesellschaft, in der sich Freiheit allererst realisiert.30
Transformation ist bei Polanyi kein Prozess der Umformung substantieller Gehalte, sondern der Titel für einen schicksalhaft um sich greifenden Geschichtsprozess, der auf einen Abgrund zuläuft, aber auch einen Sinn fürs ganz Andere hervorruft. Nur eines ist Transformation ganz sicher nicht: eine allmähliche Umformung unter langanhaltendem Veränderungsdruck.
Genau das hat Volker Leppin in seiner Verwendung des Transformationsbegriffs im Sinn.31 Mit dieser Terminologie setzt Leppin ein Gegengewicht gegen die mit der Lutherrenaissance selbstverständlich gewordene Vorstellung einer plötzlichen Einsicht und Wende Luthers, eines reformatorischen Durchbruchs,32 kurz: gegen die narratio des Turmerlebnisses. An die Stelle einer punktuellen Ereignisgeschichte tritt die longue durée allmählicher Veränderungen im Spätmittelalter, denen Luther Ausdruck verschaffe,33 indem er Impulse, die in der Luft lagen, aufnahm und miteinander kombinierte. Die Vorstellung einer konsequenten und einheitlichen Entwicklung reformatorischer Lehre aus der Zentralanschauung der (wiederentdeckten) Rechtfertigungslehre vermittle ein schiefes Bild der historischen Vorgänge. Transformation ist Überführung einer Gestalt in eine andere, wobei schon in der Wortbildung die Präposition für Differenz und Übergang stehe und an einem Stammnomen der Kontinuität mit dem bereits Gegebenen erscheine (trans-formare).34
Bei Leppin verliert das Wort Reformation seine semantische Nachbarschaft zu Revolution und Epochenbruch und wird zu »einer langandauernden Umwandlung, die freilich in den Jahren 1517–1525 eine erhebliche Akzeleration erfuhr«35. Der Leitbegriff der Transformation ist temporal bestimmt, aber zugunsten des Allmählichen und »Sachten«36 akzentuiert. Die Grenzen dieses Unternehmens kann man an dem Umstand ermessen, dass Leppin die Denkfigur der erheblichen Akzeleration in kurzer Zeit in Anspruch nehmen muss, um seine Theorieperspektive mit den historischen Phänomenen zu vermitteln. Ob es gelingen kann, aus dem Reformator sozusagen einen Transformator zu machen, darf offenbleiben, jedoch ist Leppins Interesse berechtigt, jene Mischung aus Ursprungsdenken, Konversionsbiographie und senkrecht von oben einbrechendem Novum abzuhalten, mit der die Frage nach dem initium theologiae Lutheri einherging. Von der Phänomenologie hätte man lernen können, dass es Anfänge oft nur in der Gestalt dessen gibt, was bereits angefangen hat und was Zeit braucht, bevor es sich bemerkbar macht (für das Bewusstsein gilt das ebenso wie für sein Zeiterleben). Das Interesse für das, was Luther aus Augustinus, aus der Mystik oder von seinem Mentor von Staupitz aufnimmt und aufnehmend sich anverwandelt, prägt Leppins Transformationsbegriff im Kontrast zu dem, was Hirsch als Umformungskrise und Polanyi als revolutionären Bruch zu beschreiben sucht. Vom dramatischen Wechsel, vom Zusammenbruch der symbolischen Ordnung ist keine Rede, eher von einem Auswuchs oder von einem kontinuierlichen Klimawandel.
Wollte man die Alternativen des Transformationsbegriffs ins Verhältnis setzen, könnte man zwischen einer Transformation erster und zweiter Ordnung unterscheiden. Jene ist im Grunde eine Systemanpassung an sich verändernde Zustände der Umwelt, durch die sich die Binnenordnung und wohl auch die Eigendynamik des Systems wandelt, aber im Wesentlichen unter neuen Bedingungen bewährt und erhält, während Transformationen zweiter Ordnung Strukturen ändern, so dass das auf diese Weise Veränderte nicht mehr mit dem status quo ante kompatibel ist. Als Grenzwert solcher Systemtransformation gilt der Bruch der bestehenden Formen, eine Destabilisierung, welche die ursprüngliche Ordnung sprengt.37 Aufgrund der jeweiligen Zeitform unterscheiden sich beide Transformationsbegriffe, der eine gleichsam reformistisch, der andere mit dem Akzent gewaltsamer Veränderung.
Transformation war schließlich bei Karl-Otto Apel der Titel eines systematischen Programms, mit dem der kürzlich verstorbene Philosoph die Doppelstrategie bezeichnete, eine Theorie durch radikalen Umbau weiterzuentwickeln und gegen ihre ursprüngliche Fassung