In Island hatte ich einmal gehört, dass Rot die Farbe der königlichen Familie in Dänemark sei. Ich vermutete daher, dass die Männer mit den roten Röcken vielleicht königliche Prinzen seien.
Sollte ich den Kapitän fragen, wie es sich damit verhielt?
Ich hätte es gern getan, aber ich getraute mir nicht recht; denn ich hatte mich schon so oft geirrt, und dann wurde meist über mich gelacht.
Doch nun kam wieder einer der rotgekleideten Männer uns entgegen. Als er gerade vorbeiging, grüsste ich abermals und warf ein paar scheue Blicke auf den vornehmen Herrn.
Der rote Mann sah mich einen Augenblick verwundert an. Er erwiderte zögernd meinen Gruss und ging dann seines Weges weiter.
Jetzt endlich fasste ich Mut und wandte mich an Herrn Foss:
„Wissen Sie vielleicht, Herr Kapitän, was das für ein Mann ist?“
„Welchen Mann meinst du?“
„Den roten dort.“
„Das ist ein Briefträger, Nonni. Glaubst du, der sei etwas Besonderes?“
„Ein Briefträger!?“ rief ich aus. — „Dort der Herr in dem prachtvollen roten Rock ist ein — Briefträger?“
„Aber gewiss, Nonni. Weisst du das nicht? Siehst du denn nicht die Briefe, die er trägt?“
„Doch, Herr Kapitän. — Aber wie kommt es, dass ein Briefträger so prachtvolle Kleider anhat?“
„Den roten Rock meinst du? — So prachtvoll scheint mir der gerade nicht zu sein. Die rote Farbe ist eben die dänische Landesfarbe, und die haben nun einmal die Postleute für ihre Uniform.“
„Sind dann diese Briefträger gewöhnliche Leute wie alle andern Menschen?“
„Aber natürlich, Nonni, was sollten sie sonst sein?“
Man kann sich denken, wie überrascht ich war! Ich hütete mich aber, Herrn Foss zu erzählen, dass ich die roten Postboten für königliche Prinzen gehalten hatte.
Etwas kleinlaut fragte ich dann weiter:
„Herr Kapitän, was sind aber das für Leute, die mit den Schwertern und Helmen und mit den goldnen Knöpfen?“
„Das sind dänische Soldaten und Polizisten, mein Lieber.“
„Gehören die zu den vornehmen Leuten?“
„Das kann man nicht gerade sagen. Die meisten von ihnen sind ganz gewöhnliche Leute.“
Von jetzt ab unterliess ich es, meine Mütze abzunehmen vor den Soldaten, Polizisten und Briefträgern. Ich fühlte mich im Augenblick ein wenig beschämt wegen meiner Unwissenheit und wagte es nicht mehr, noch weiter solche Fragen zu stellen.
Meine Wissbegierde wurde auch bald wieder durch andere Dinge abgelenkt. Es gab ja fortwährend so viel Neues für mich zu sehen; der eine Eindruck verdrängte und verwischte den andern.
Nach einer Weile kamen wir an einen Ort, der war wie übersät von den schönsten Blumen. Dazwischen waren grüne, sammetweiche Rasenplätze, und an vielen Stellen standen grosse und kleine Bäume.
„Nonni“, sagte der Kapitän, „vorher haben wir uns die kleine Blumenanlage in Grönningen nicht näher angesehen. Hier ist eine grössere, ein schöner Lustgarten, da wollen wir hineingehen.“
Es war in der Tat eine ungewöhnlich prachtvolle Gartenanlage, die erste, die ich in meinem Leben genauer sehen sollte.
Als ich von aussen her den ersten Blick in den Garten hineinwarf, blieb ich wie festgebannt vor Bewunderung stehen. Ich war entzückt von der Pracht dieses paradiesischen Ortes, so überaus schön war es da.
Der Kapitän liess mich eine Weile schauen, dann führte er mich durch ein Gittertor hinein.
Ich wurde bei diesem Eintritt von einer gewissen Ehrfurcht und feierlichen Stimmung ergriffen. Langsam wanderten wir unter schattigen Baumreihen, auf einsamen Gängen und lauschigen Pfaden dahin, überall umgeben von herrlichen Blumen, die wie schimmernde Perlen und rötlich funkelnde Rubine hingestreut waren.
„O wie schön! wie schön!“ rief ich da immer von neuem aus.
Und als ich mich an der Blumenpracht sattgesehen hatte, schaute ich nach oben, wo sich mir wieder ein anderes Wunder darbot, ein für mich völlig neues, eine unendlich zarte Schönheit ganz eigener Art.
Ich sah nämlich, nicht hoch über mir, ein herrliches grünes Laubgewölbe, ganz überirdisch fein und leicht und halb durchsichtig, das immerfort in einer ungemein zierlichen, zitternden Bewegung war.
Da glitzerte und flimmerte es beständig, und es hingen, wie mir schien, unzählige goldig leuchtende Fäden herab.
Es war das unermüdliche Spiel der Sonnenstrahlen, die hier wie lebhafte kleine Geister ohne Rast und ohne Ruh überall herum durch das zarte Laubdach huschten.
An einigen Stellen, wo man oben durch kleine Lücken in dem Laubgewölbe hinaussah, sickerte hell und freundlich, wie feiner goldner Regen, das Sonnenlicht durch das zitternde Laub auf uns hernieder.
Es kam mir vor, als fliesse dieser Lichtglanz gerade in mich hinein und verkläre alle meine Sinne. —
Am meisten aber entzückte mich das Laub, das ich hier zum erstenmal in nächster Nähe sah.
Dieses zarte, sich stets bewegende Laub machte auf mich einen unbeschreiblichen Eindruck. Es war für mich etwas gänzlich Neues, etwas himmlisch Schönes.
Ich fühlte mich wie von einem schwellenden, geheimnisvollen Leben umgeben.
Diese Unzahl von stets sich wiegenden, zierlichen Zweigen und lichtdurchleuchteten grünen und purpurroten Blättern, die von jedem Windhauch so reizvoll hin und her bewegt wurden, erschienen mir wie lebendige Glieder märchenhafter Wesen, welche hier in der von Blumenduft und Sonnenschein erfüllten Luft um uns herum schwebten und uns von allen Seiten her zuwinkten.
O wie herrlich war alles das! wie unaussprechlich schön diese neue Märchenwelt, in der ich mich befand!
Ich fühlte mich zuletzt wie bezaubert von lauter Bewunderung, Freude und Seligkeit.
Der Kapitän schien meine Ergriffenheit zu merken; er sprach wenig und liess mich ruhig schauen und alles betrachten, soviel ich nur wollte.
So gingen wir durch dies ganze sonnige Blumenparadies hindurch.
Als wir wieder zum Ausgang gelangten, blieb ich stehen und schaute mich um. Am liebsten wäre ich noch einmal durch den herrlichen Garten gewandert, aber es war leider nicht möglich. Herr Foss sagte:
„Nonni, wir haben noch vieles zu sehen, wir müssen weiter.“
Zögernd folgte ich ihm. Wir traten durch das Gartentor und befanden uns im nächsten Augenblick wieder auf einer grossen belebten Strasse.
„Hier müssen wir rechts gehen“, sagte der Kapitän.
Als wir an einem hohen Turm vorbeikamen, fiel mir auf einmal der Runde Turm ein, das grosse Wunder Kopenhagens, von dem ich schon als Kind so vieles gelesen und gehört hatte.
Rasch ergriff ich die Hand des Herrn Foss und sagte:
„Herr Kapitän, wie ist es mit dem Runden Turm? Den haben wir noch nicht gesehen, und er ist doch das Merkwürdigste von allem, was es in Kopenhagen gibt! Ist er weit von hier?“
„Ach so, der Runde Turm! Dass ich doch bis jetzt nicht daran gedacht habe! Du hast mir ja einmal gesagt, deine Mutter habe dir von diesem Turm erzählt. — Hast du Lust, jetzt gleich den Runden Turm zu sehen und hinaufzusteigen?“
„O ja, Herr Kapitän!“ erwiderte ich lebhaft.
„Gut, das wirst du