Wo in der Welt war wohl ein Turm, der mit einem solchen Wunderturm sich messen konnte!
Und nun sollte ich das erste Mal dieses Weltwunder sehen und im Innern des Turmes auf dem spiralförmigen Weg bis zur obersten Plattform hinaufgehen dürfen!
6. Der Runde Turm
Wir waren soeben um eine neue Strassenecke herumgebogen. Auf einmal wandte sich der Kapitän nach links und sagte:
„Siehst du, Nonni, dort drüben?“
Ich schaute neugierig nach der bezeichneten Richtung hin und entdeckte nun in der Ferne über allen Dächern, hoch in die Luft ragend, eine graue, ungeheuer grosse, runde, steinerne Masse, deren oberster Rand, wie mir schien, von einem Geländer umgeben war.
Dorthin hielt ich jetzt unverwandt meinen Blick gerichtet.
Der Kapitän sagte nichts. Er schaute mich nur lächelnd an.
Ich griff dann mit der einen Hand nach seinem Arm und deutete mit der andern vorwärts nach der seltsamen steinernen Masse droben:
„Herr Kapitän, ist das der Runde Turm?“
„Ja, Nonni, das ist er.“
„O, der ist ja bald so breit wie er hoch ist!“ rief ich in meiner ersten Überraschung aus.
Herr Foss lachte. „Ja, Nonni, da hast du recht. Es gibt darum auch Leute, die ihn den ‚dicken Turm‘ nennen. Man hat ihn eben so breit machen müssen wegen seiner inneren Einrichtung. Nun komm aber, wir wollen einmal näher hingehen.“
Einige Schritte vor dem Eingangstor blieben wir stehen. Herr Foss sagte, ich solle jetzt den Turm zuerst von da aus anschauen.
Schweigend betrachtete ich den runden, gewaltig starken Turmbau, der wie ein mächtiger Felsblock zum Himmel emporragte — für mich ein überwältigender Anblick. Der Turm war so hoch, dass ich den Kopf ganz zurücklegen musste, um bis zum obersten Rand hinaufsehen zu können.
Plötzlich rief ich aus: „Herr Kapitän, das ist aber ein seltsamer Turm! Der steht ja ganz schief! Er neigt sich gegen uns her! Sehen Sie hier, gerade über meinem Kopf!“
„Das meinst du nur, Nonni, das ist eine Täuschung“, belehrte mich Herr Foss. „So sieht es bei allen hohen Bauten aus, wenn man sie aus nächster Nähe betrachtet.“
Ich konnte das kaum glauben und schaute mit einem fragenden Blick den Kapitän an. Da nahm er mich beim Arm und sagte:
„Nonni, ich merke, du verstehst mich noch nicht. Komm, wir gehen jetzt auf die andere Seite des Turmes, dann wirst du sehen, dass er sich auch dorthin wieder neigt.“
Wir gingen an dem Turmtor vorbei, etwa zwanzig Schritte weit nach der entgegengesetzten Seite. Unterwegs schaute ich mehrmals in die Höhe, und höchst erstaunt rief ich wieder aus:
„Herr Kapitän, jetzt bewegt sich ja der Turm dort oben! — Der oberste Teil dreht sich! — Er folgt uns immer nach! — Jetzt neigt er sich auch hier vornüber!“
„Gewiss, Nonni; es ist eben, wie ich dir gesagt habe: das alles sieht nur so aus.“
Nun lief ich schnell zurück bis zu der Stelle, wo wir vorher gestanden hatten — und abermals neigte sich der obere Teil des Turmes zu mir hin!
„Herr Kapitän“, rief ich, „jetzt neigt er sich wieder ganz deutlich hierher! Wie ist es dort, wo Sie stehen?“
„Hier neigt er sich ganz deutlich zu mir her!“ sagte Herr Foss.
Also neigte er sich zu gleicher Zeit nach rechts und nach links!
Das war aber doch rein unbegreiflich! Es war, wie wenn der Turm nichts anderes zu tun gehabt hätte, als fortwährend unsern Bewegungen zu folgen, sich nach links und nach rechts zu wenden und auf uns hernieder zu schauen. Aber das merkwürdigste war, dass er sich zu gleicher Zeit nach beiden Seiten neigte.
Erstaunt lief ich wieder zum Kapitän zurück.
Ich sah mir nun den Wunderturm etwas genauer an. Er hatte keine Spitze. Sein oberster Teil war ebenso breit wie der untere. Er war überall rund und hatte überall den gleichen grossen Umfang. Den Abschluss oben bildete eine weite, runde Plattform, als ob der Turm dort querdurch abgesägt worden wäre.
Zuhöchst am Geländer, das am äusseren Rand um die ganze Plattform herumlief, sah ich ab und zu kleine Gestalten, die sich ähnlich wie Fliegen hin und her bewegten. Auf meine Frage, was dies sei, erklärte mir Herr Foss, es seien Leute, die droben herumgingen und sich die schöne Aussicht und die Stadt ansähen.
Diese Menschen sahen in der gewaltigen Höhe wie Puppen und Zwerge aus. Manchmal lehnten sie sich an das Geländer, dann konnte man deutlich ihre Köpfe und Hände und Arme unterscheiden. Aber sie waren viel kleiner als in Wirklichkeit.
Das alles machte diesen Turm für mich zu einem wahren Wunder. Ich konnte ihn gar nicht genug betrachten.
Besonders über seine mächtige Höhe und Breite musste ich mich immer von neuem wundern. Der Kapitän sagte mir darauf:
„So scheint es dir, Nonni, weil du noch nie grosse Bauwerke gesehen hast. Es gibt aber Türme in der Welt, die sind noch viel grösser als dieser. Wenn du einmal nach Frankreich kommst, wirst du noch bedeutend höhere Türme sehen.“ —
Auf die Gebäude in der nächsten Umgebung hatte ich bis jetzt kaum geachtet. Ich wurde erst darauf aufmerksam, als Herr Foss mich fragte:
„Nun, Nonni, hast du dir auch die Kirche zu dem Runden Turm gemerkt?“
„Was für eine Kirche, Herr Kapitän?“
„Die Dreifaltigkeitskirche. Sie steht doch hier neben uns.“
Wahrhaftig, da war eine grosse Kirche, die sich hoch zwischen den Häuserreihen gerade hinter dem Turm erhob.
Ich fragte: „Hat denn der Runde Turm etwas mit dieser Kirche zu tun?“
„Aber selbstverständlich, Nonni! Der Runde Turm ist ein gewöhnlicher Kirchturm. Er ist der Turm der Dreifaltigkeitskirche.“
Das kam mir sehr sonderbar vor. Ich hätte nicht gedacht, dass so ein Turm, auf den man mit Pferd und Wagen hinauffahren konnte, ein Kirchturm sein könne.
„Und weisst du auch, wer den Turm und die Kirche gebaut hat?“ fragte Herr Foss weiter.
„Nein, Herr Kapitän.“
„Dann musst du es dir aber merken, kleiner Freund. — Es war der dänische König Christian IV. Von diesem sind noch viele Prachtbauten hier in Kopenhagen, und überhaupt im ganzen Lande.“
„O, von Christian IV. habe ich schon gelesen, Herr Kapitän! Ich kenne seinen Namen gut! Er war einer der grössten Könige von Dänemark!“
„Ja, das ist er wohl gewesen.“
„Gibt es hier in Kopenhagen noch mehr solcher Türme von ihm, Herr Kapitän?“
„Nein, solche gerade nicht, Nonni; aber andere, die ebenso merkwürdig sind wie der Runde Turm. So zum Beispiel der von der ‚Börse‘, der auch hier in der Nähe ist.“
„O, dann können wir ja gleich hingehen, Herr Kapitän!“
Herr Foss lachte. „Nur Geduld, kleiner Freund! — Weisst du überhaupt, was die Börse ist?“
„Nein, Herr Kapitän, ich habe noch nichts von ihr gehört.“
„Gut, dann will ich es dir sagen. — Die Börse ist ein prächtiges Gebäude am inneren Hafen, dort werden Geldgeschäfte abgemacht.“
„Und der Turm der Börse, Herr Kapitän, ist der auch so gross wie der Runde Turm?“