„Nein, mein Herr, ich will niemand besuchen“, antwortete ich kleinlaut.
„Aber warum kommst du dann hier herein? Etwas musst du doch vorhaben?“
„Ich wollte nur sehen, ob die deutschen Herren hier wohnen.“
„Gewiss, die wohnen hier. Willst du zu einem von ihnen gehen?“
„Nein, aber ich sollte heute abend hierher gebracht werden.“
Der Mann schaute mich jetzt mit grossen Augen an und betrachtete mich aufmerksam. Dann sagte er:
„Du sollst zu den deutschen Herren hierhergebracht werden? Heute abend? Ja wer bist du denn, mein Junge, und wo kommst du her?“
„Ich heisse Nonni“, antwortete ich rasch. „Ich komme von Island, und ich soll hier eine Zeitlang bei Herrn Dr. Grüder wohnen.“
Sichtbar überrascht, reichte der Herr mir nun die Hand und sagte überaus freundlich:
„Aber dann sollst du ja gerade bei mir wohnen, kleiner Freund! Mein Name ist Hermann Grüder.“
Jetzt drückte auch ich seine Hand und sagte: „Ich hatte mir gleich gedacht, dass Sie der Herr Dr. Grüder sind.“
„So? — Kennst du mich denn?“
„Nein, Herr Doktor, aber ich habe soeben von einem Fräulein gehört, wie Sie aussehen.“
Herr Grüder schaute mich fragend an.
„Es war ein Fräulein in einem Obstladen“, fuhr ich fort; „ich habe dort eine Birne gegessen.“
Herr Grüder lächelte. Er sah jetzt gar nicht mehr ernst aus. Ich bekam den Eindruck, dass er ein freundlicher, guter Mann sein müsse. Er nahm wieder das Wort und sagte:
„Es freut mich herzlich, dass du hier bist, kleiner Freund. Aber nun erzähle mir auch, wie du so ganz allein hierher kommst.“
„Ich bin nicht allein, Herr Doktor. Der Kapitän des Schiffes ‚Valdemar von Rönne‘, das mich von Island hergebracht hat, steht draussen auf der Strasse und wartet auf mich.“
„So, so? Dann werde ich ihn ja gleich begrüssen können. Ich gehe nämlich gerade in die Stadt, da kannst du mich zu ihm hinbegleiten.“
Herr Grüder wollte hinausgehen. Er blieb aber nochmal stehen und besann sich einen Augenblick. Dann sagte er:
„Weisst du auch, Nonni, dass der andere isländische Knabe, der zusammen mit dir nach Frankreich reisen soll, schon vor einiger Zeit bei uns angekommen ist?“
„Meinen Sie den Gunnar Einarsson, Herr Doktor?“
„Ja, den Gunnar Einarsson, von dem Hofe Nes im Eyjafjörður auf Nord-Island. Ihr kennt euch wohl?“
„Ja, Herr Doktor, wir wohnen in Island nicht weit voneinander. Ich bin auch aus dem Eyjafjörður.“
„Richtig, das hat er mir schon erzählt.“
„Geht es ihm gut, Herr Doktor?“
„Ja, Nonni, es geht ihm gut, und ich bin sehr mit ihm zufrieden. Er sitzt fast den ganzen Tag über seinen Büchern und lernt.“
„Ist er wirklich so fleissig?“ fragte ich etwas betroffen.
„Ja, das ist er. — Und du bist es wohl auch, nicht wahr, kleiner Freund?“
„Ich weiss nicht, Herr Doktor. Ich will es aber versuchen. Doch ich glaube nicht, dass ich so fleissig sein kann wie Gunnar.“
„So? — Warum denn nicht, mein Lieber?“
„Ich bin nicht daran gewöhnt, Herr Doktor.“
Herr Grüder fing an zu lachen. „Nicht daran gewöhnt!“ sagte er. „Was hast du denn eigentlich bis jetzt getrieben?“
„Ich bin viel in den isländischen Bergen herumgeritten und auch viel auf dem Meere in meinem Kahn gefahren. Es gefällt mir immer am besten, wenn ich draussen in der freien Luft bin.“
Herr Grüder lächelte abermals. „Dann hast du es allerdings recht schön gehabt“, erwiderte er. — „Ja, ja. — Du kommst mir vor wie so eine kleine wilde Blume aus den isländischen Bergen. — Doch sei nur nicht bange, mein Freund, du wirst auch hier nach Herzenslust im Freien sein und herumspringen können. Freilich nicht den ganzen Tag. Du musst zwischenhinein auch etwas lernen und studieren, sonst wirst du ja nie ein tüchtiger Mann werden. Daran gewöhnt man sich aber schon mit der Zeit.“
Was Herr Grüder hier gesagt hatte, gefiel mir, und ich wurde immer mehr überzeugt, dass er wirklich ein guter Mann sei.
Er trat jetzt zur Haustüre hinaus. Ich folgte ihm die steinernen Stufen hinunter und ging an seiner Seite durch den langen, offenen Gang bis zum Strassentor.
Währenddessen fragte er mich: „Nonni, du sagtest soeben, das Schiff, auf dem du nach Kopenhagen gekommen bist, heisse ‚Valdemar von Rönne‘. Wie heisst denn der Kapitän?“
„Er heisst Foss. Er ist von Bornholm. Alle Matrosen des Schiffes sind von Bornholm. Herr Foss kennt schon Ihren Namen, Herr Doktor!“
„Warum ist er denn nicht mit dir ins Haus hereingekommen?“
„Ich glaube, er wollte Sie nicht stören, Herr Doktor.“
Mittlerweile hatten wir das Strassentor erreicht. Ich machte die Tür auf und liess Herrn Grüder vor mir hinausgehen. Dann sprang ich hinter ihm her und an ihm vorbei und lief eilends zu Herrn Foss hin, der auf der andern Seite der Strasse wartete.
Herr Grüder kam langsam nach.
Ich fasste den Kapitän am Arm, zog ihn zu mir herunter und flüsterte ihm ins Ohr:
„Herr Kapitän, der Mann, der da kommt, ist der Herr Dr. Grüder!“
Im nächsten Augenblick war schon Herr Grüder selbst da. Er grüsste den Kapitän freundlich und reichte ihm die Hand.
„Ich höre“, sagte er, „dass Sie diesen kleinen Isländer hierher gebracht haben. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Hermann Grüder.“
Der Kapitän stellte sich ebenfalls dem würdigen Herrn vor und teilte ihm dann sogleich mit, dass er mich auf Wunsch meiner Mutter zu einer Familie in der Stadt überbringe.
Herr Grüder erwiderte, er habe schon eine Zeitlang auf meine Ankunft gewartet und freue sich, dass ich nun endlich da sei, und noch dazu so fröhlich und so frisch.
„Ja, er ist recht munter und ist auch die ganze Reise hindurch immer so gewesen“, sagte Herr Foss darauf.
Herr Grüder blickte mich freundlich an: „Das gefällt mir, mein Junge, und ich hoffe, dass du auch bei uns deine Fröhlichkeit nicht verlieren wirst.“
Zu Herrn Foss gewandt, fuhr er fort: „Haben Sie eine glückliche Überfahrt gehabt, Herr Kapitän?“
„Nein, leider nicht, Herr Doktor. Wir hatten eine ungewöhnlich harte und lange Reise.“
„Das tut mir aber herzlich leid“, sagte Herr Grüder teilnahmsvoll und mit einem väterlichen Blick auf mich, wie wenn er mich trösten wollte. Ich entgegnete aber sogleich:
„Herr Doktor, mir hat es ganz gut gefallen! Die Stürme und die hohen Wellen haben mir immer Spass gemacht, und auch die Eisberge!“
„Das ist brav von dir, mein Junge. Doch wie sagst du: Eisberge? — Sind Sie denn zwischen Eisberge geraten, Herr Kapitän?“
„Ja, Herr Doktor, und wir können Gott danken, dass wir überhaupt mit dem Leben davongekommen sind.“
„Das muss allerdings schlimm gewesen sein. — Sie haben wohl starke Stürme gehabt und sind am Ende aus Ihrem Kurs verschlagen worden?“
„Ja,