Ein Liller Roman. Paul Oskar Höcker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Oskar Höcker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445464
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der französischen Firma versehen wurden. Unbedingt war das deutsche Haus jedem Wettbewerb Frankreichs überlegen. Georges fabelhafte Geschmeidigkeit und Beweglichkeit, sein fein abgeschliffenes Weltbürgertum und seine in allen Erdteilen gesammelten Menschen- und Geschäftskenntnisse bewunderte Helene immer wieder. Als George es für ratsam hielt, sich in Frankreich naturalisieren zu lassen, erschienen ihr die eigenen Einwände schliesslich selbst kleinlich und philisterhaft. George hatte seiner Auslandstätigkeit halber nur wenig militärische Übungen in Deutschland machen können. Da er sich im deutschen Drill nie so recht wohl gefühlt, durch sein so ganz anders gerichtetes Leben auch gar keinen rechten Anschluss an Offizierskreise gesucht oder gefunden hatte, so nahm er an der Grenze des Schwabenalters als Leutnant vom Landwehrtrain zweiten Aufgebots seinen Abschied, unter Verzicht auf die Uniform. Schwierigkeiten konnte seine Naturalisation hier nicht verursacht haben. Es wäre Helene jetzt aber doch eine grosse Beruhigung gewesen, wenn die Formalitäten schon ihre Erledigung gefunden hätten. Die schwarzseherischen Bemerkungen von Manons Vater gingen ihr nicht aus dem Sinn.

      Da war denn auch der Besuch des Herrn Schneider nicht dazu angetan, ihre Stimmung aufzuhellen. Schneider war ein gründlich gescheiter, fleissiger und zuverlässiger Mensch, aber in allem der verkörperte Gegensatz seines Chefs. So ernst, so schwer nahm er das Leben. Zu dem leichten Tändelton, den Helene auch ihm gegenüber zuweilen anschlug, konnte er sich schon gar nicht finden. Helene ahnte, dass Schneider heute sehr trübe gestimmt sein würde. Wenn der grosse, starke, blonde Mann sie mit seinen ernsten, blauen Augen so eindringlich ansah, dann verging ihr die Spottlust. Sie wollte seinen Pessimismus erst gar nicht zu Worte kommen lassen, und fiel ihm gleich in die Rede: „Sie sollen doch Französisch sprechen. Immer üben, üben. Seien Sie froh, dass ich so für Ihre Aussprache besorgt bin. Die anderen lachen Sie nur aus.“

      „Das tun Sie, Madame, nebenher ja auch. Aber heute ...“ Er zog das Taschentuch und fuhr sich über den Kopf. „Es geht nicht gut aus, gnädige Frau, ich hab’ es so in den Knochen. Die zweite Sekretärin aus Lemonniers Bureau ist vorhin von ihrem Urlaub zurückgekommen. In Cambrai, sagt sie, sind schon gestern die vierten Kürassiere verladen worden. Und überall Bahnschutzmannschaften. Haben Sie die Proklamation vom Maire Don Lille gelesen? Danach ist es doch so ziemlich ausgeschlossen ... Dass Herr Martin so gar nichts von sich hören lässt. Er wird doch hoffentlich sofort von Paris abgereist sein?“

      „Ich hoffe es auch. Aber ziehen Sie doch, bitte, keine so fürchterliche Grimasse, Verehrtester. Sie sollten ja nicht gleich an die Laterne.“

      Er zuckte die Achsel. „Ich warte jetzt noch die Abendblätter ab. Wenn sich’s da noch kritischer zuspitzt, muss ich leider fort, ohne Ihren Herrn Gemahl gesprochen zu haben.“

      „Sie müssen fort?“

      „Jede Stunde kann doch die Mobilisation bringen. Und dann —“

      „Sie fürchten Fatalitäten? Im Ernst? Aber ich begreife nicht — Sie, ein grosser, starker Mann —“

      „Fatalitäten — wohl auch. Aber zu allermeist fürchte ich den Anschluss zu verpassen. Denn ich bin doch Soldat.“

      „Herr Schneider! Sie — Soldat?“ Es reizte sie nun doch, ihn aufzuziehen. „Kanonier? Füsilier? Schwere Reiterei?“

      Er ging auf ihren Ton nicht ein. „Infanterist. Landwehrmann. Ich bin Vizefeldwebel. Offizier werden konnte ich nicht, so immer im Ausland. Aber wenn es jetzt losgeht —“

      „Losgeht. Losgeht. Unken Sie doch nicht so ... Ich bin nur froh, dass mein Mann nichts mehr damit zu tun hat. Wenigstens in der Hinsicht könnte man ruhig sein.“ Aber sie stand jetzt doch hastig auf und trat ans Fenster. „Natürlich ist es aufregend, dieses ewige Geschrei da draussen. Aber kennen Sie Lille anders? Hier schreit man immer.“

      „Da drüben scheint’s irgendeine Rauferei zu geben ... Ja, gnädige Frau, die Belgier sind heute früh auch schon aufgerufen worden. Und Herr Martin wird doch wohl kaum hierbleiben wollen, wenn ...“ Er zog das „Echo“ aus der Tasche und wies erregt auf den Leitaufsatz, aus dem er, brockenweise, das Fettgedruckte vorlas: „Donnerstag früh Bombardement von Belgrad wieder angefangen — Deutschland hat noch kein Sterbenswort zugunsten des Friedens gesprochen, wünscht anscheinend den Krieg — Russland setzt Mobilisierung fort — Frankreich tat alles, um einen Konflikt zu vermeiden, ist aber gerüstet, seine nationale Ehre ...“

      „Wenn Sie nur hergekommen sind, um mir das „Echo“ vorzulesen, lieber Herr Schneider —“

      „Krieg und Frieden — es hängt nur noch an einem Faden. Ich hatte ja — offengestanden — nie daran gedacht, dass es einen mal so unterwegs erwischen könnte. Meine drei Brüder — die werden sich natürlich freuen. Einer ist bei der Marine, die beiden anderen stehen in Königsberg. Im Osten wird’s wohl zuerst losgehen. Es sind meine Zwillingsbrüder.“

      „Offiziere? Aktiv?“ fragte Helene erstaunt. Ihn wunderte es nicht weiter, dass sie es ihm nicht zutraute. Er war ihr dafür nicht elegant genug. Sie hatte ihn zu ihren Empfängen ja auch niemals eingeladen.

      „Jawohl, gnädige Frau, der eine Infanterist, der andere Pionier.“ Nun sprach er Deutsch. Und es war ihm wie eine Erlösung. Seine erregten Blicke strichen über den Platz hin. Bei der Hauptpost hatte sich eine grosse Menschenmenge angesammelt. Und von allen Seiten schoss es herzu — aus dem Boulevard, aus den anderen drei Strassen — und der Lärm wuchs.

      Helene hatte das Fenster geöffnet. Nun hörte man einzelne Rufe. „Ein Spion — ein Spion!“ Sie zerrten da irgendein Wesen wie ein Bündel hin und her. Männer, Weiber, Halbwüchsige, Mairiebeamte drängten sich dazwischen. Es war aufregend.

      „Sicher ein Deutscher,“ sagte Schneider und atmete tief auf. „Sie waren schon gestern in der Fabrik wie elektrisch geladen ... Drei Jahre habe ich doch jetzt gute Freundschaft gehabt mit Challier ...“

      „Aber das ist ja schauderhaft, das da draussen!“ Helene stampfte leicht auf und schloss das Fenster. „Wenn erst die Plebs die Herrschaft bekommt ... Ich mag gar nicht hinsehen.“

      Schneider griff nach seinem schwarzen Melonenhut. „Vielleicht sehe ich Ihren Gatten nicht mehr. Bitte um meine ergebenste Empfehlung, gnädige Frau. Challier ist ja da und wird alles übergeben. Lemonnier hat die Hausangelegenheiten. Ich gehe jetzt noch rasch nach der Grand’ Place, um die neuesten Depeschen abzupassen.“

      „Und ich fahre nach Madeleine. Meine Freundin wird mich gewiss begleiten. Lassen Sie mir doch noch rasch das Auto kommen, lieber Herr Schneider.“

      „Die beiden Autos waren schon mittags beschlagnahmt, übrigens musste auch Jean gleich früh zur Zitadelle, sich stellen.“

      „Da bin ich ja wunderschön versorgt. Wie allerliebst. Gut, marschieren wir also ...“

      Sie klingelte dem Hausmädchen vergeblich. Die Jungfer stand unten in der geöffneten Haustür und liess sich von der Frau des Concierge die Ursache des Auflaufs da drüben erklären. Unschlüssig, ob er die junge Frau erwarten sollte, da sie sich von ihm noch nicht verabschiedet hatte, stieg Schneider die Treppe hinab.

      Helene musste sich Hut, Seidenjacke und Sonnenschirm selbst besorgen. Als sie in den Marmorflur trat, kam es aber nicht mehr dazu, dass sie die Bedienstete zur Rede stellte. Eine schlanke junge Dame, mit grossen, grauen Augen und seltsam hellblondem Haar, das wie gefärbt wirkte, stürmte herein, atemlos, ohne Hut ... Als sie Helene sah, erfasste sie ihre beiden Hände ... „Solche Angst hatt’ ich um dich! Ich bin herübergelaufen, wie ich war! An der Post haben sie einen Deutschen halb totgeschlagen!“

      „Ach, Geneviève, du liebe, gute, kleine Fee!“

      Die Pförtnersfrau und das Hausmädchen mischten sich ein. Vor dem Hause waren Leute stehengeblieben. Der Lärm drüben wuchs, er kam näher.

      Schneider hatte vor Fräulein Geneviève Laroche höflich den Hut gezogen. Sie beachtete ihn nicht, sondern nahm Helene sofort mit sich zum Treppenaufgang zurück. „Komm’, Liebe, ich muss mit dir sprechen, komm’ rasch.“

      „Aber ich wollte noch eben mit Herrn Schneider ...“

      Geneviève