Er habe aber später einsehen müssen, dass er sich damals zu wenig mit dem vielfältigen Werk des Philosophen Baruch de Spinoza auseinander gesetzt habe.48 Vielleicht sei mehr Positives in dessen Werk zu finden, als er gedacht habe. Bei den jungen Philosophen zu seiner Erdenzeit sei eine Art Spinoza-Begeisterung ausgebrochen.49 Auch Jacobi sei zeitweise sehr an Spinoza interessiert gewesen.50
Um wieder auf den Pantheismusstreit zurückzukommen meint er, es sei allgemein bekannt gewesen, dass Lessing als leitender Bibliothekar und Herausgeber einer Zeitschrift mehrere religionskritische Fragmente des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus51 veröffentlicht habe. Dies habe zum Streit mit der lutherischen Orthodoxie in der Gestalt des Hauptpastors Johann Melchior Goeze52 geführt: Der sogenannte Fragmentenstreit. Eine weitere Kontroverse die im Umfeld Lessings entstanden sei. Diesmal ging es um das Verhältnis zwischen den Ideen der Aufklärung und der orthodoxen lutherischen Theologie. Mit anderen Worten: Lessing wollte mit seiner Äusserung einmal mehr einfach ein wenig provozieren. Dies sei ihm definitiv gelungen. So seien halt diese Schriftsteller.
Ihr Gesprächspartner sei damals ein europaweit anerkannter Philosoph, Aufklärer und Rektor der Universität Königsberg gewesen. Deshalb sei für Ihn klar gewesen, dass wahre Philosophie nur von Universitätsprofessoren gedacht und formuliert werden könne. Zudem habe sie kompliziert zu sein und dürfe erst mit deutlicher Verzögerung von der Öffentlichkeit verstanden und diskutiert werden.53 Dieser Linsenschleifer Baruch de Spinoza aus den Niederlanden des vorhergehenden Jahrhunderts habe Werke geschrieben, die sofort Skandale auslösten und zensuriert worden seien. Dies alles habe nicht in sein damaliges Bild eines menschheitsverbessernden Philosophen gepasst, der eine Gesellschaft in Ruhe und Frieden moralisch weiter bringen wollte. Doch der Friede und die Ruhe sei auch bei ihm schon bald durch die Ereignisse rund um die Französische Revolution gestört worden. In Preussen seien die Ideen der Aufklärung nun kritischer betrachtet worden und die Zensur sei verschärft worden. Seine geruhsame Gelehrtenwelt sei dadurch ins Wanken geraten und er habe feststellen müssen, dass obwohl erst noch von König Friedrich Wilhelm II als Rektor der Universität geehrt, auch er die politische Neuausrichtung des Monarchen zu spüren bekam. Die Neubesetzung des preussischen Kultusministeriums habe den Kampf gegen alle Aufklärer bedeutet. Gewisse Zensoren hätten sogar gewünscht, seine Publikationen zu untersagen.54 Um das Erscheinen seiner Werke trotzdem zu ermöglichen, habe er jeweils versucht eine Approbation für sie bei einer theologischen Fakultät einzuholen. Dies sei nicht einfach gewesen, da seine Werke immer kritischer gegenüber der Kirchenpolitik Preussens wurden. Und so kam es, dass auch er in hohem Alter fast zu einem Rebellen wurde, wie Spinoza zu seiner Zeit.
Wie er es persönlich mit der vermutlich ältesten Tradition der Menschheit – der Religion – hätte, fragen Sie ihn. Er erklärt Ihnen, dass er zu seiner Erdenzeit der Meinung gewesen sei, dass es eigentlich nur eine wahre Religion gäbe, welche innerlich und verborgen sei und sich in der moralischen Gesinnung eines Menschen ausdrücke: eine natürliche, allgemeine Weltreligion. Dieser zu folgen sei der wahre Gottesdienst. Alles, was ausser dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, sei blosser Religionswahn und Afterdienst Gottes. Die religiösen Zelebrierungen, der Ritus und der historische Glaube seien dazu da, den Menschen zum praktischen und moralischen Vernunftglauben zu führen. Er ergänzt: „Zur Festigkeit des Glaubens gehört das Bewusstsein seiner Unveränderlichkeit. Nun kann ich völlig gewiss sein, dass mir niemand den Satz: ‚Es ist ein Gott‘, werde widerlegen können; denn wo will er diese Einsicht hernehmen? Also ist es mit dem Vernunftglauben nicht so, wie mit dem historischen bewandt, bei dem es immer noch möglich ist, dass Beweise zum Gegenteil aufgefunden würden, und wo man sich immer noch vorbehalten muss, seine Meinung zu ändern, wenn sich unsere Kenntnis der Sachen erweitern sollte.“55
Sie stellen fest, dass der Philosoph mit dem Konstrukt eines Vernunftglaubens einen Glauben, der unabhängig von der Geschichte ist, schaffen will. Einen Glauben, der dadurch angeblich unveränderlich gemacht werden kann. Als Gegensatz nennt der Philosoph den historischen Glauben, der in der Geschichte entstand und sich in der Geschichte der Menschheit artikuliert hat. Sie fragen ihn, warum religiöse Zelebrierungen und historischer Glaube – ja Religion allgemein – nicht auch einen anderen Sinn haben könnten, als den praktischen und moralischen Vernunftglauben. Und überhaupt sei der Begriff „Moral“ zu Ihrer Erdenzeit oft eher negativ und beengend wahrgenommen worden.
Man müsse mit dem Begriff „Religion“ vorsichtig umgehen, meint er. Das was der gemeine Mann unter Religion verstehe – Judentum, Islam, Katholizismus oder Protestantismus etc. – sei als verschiedene Arten von Glauben zu verstehen, nicht als unterschiedliche Religionen. Diese verschiedenen Glauben seien historischer Art und sehr konfliktanfällig. Bei Religionsstreitigkeiten und –kriegen ginge es in erster Linie immer um diesen sogenannten Kirchenglauben – den historischen Glauben.
Aber er verstehe Ihren Einwand und meint ergänzend, dass der historische Glaube zwar nie gegenüber dem Vernunftglauben überhand nehmen dürfe, ihn zu vertilgen aber auch nicht ratsam sei, „weil dadurch vielleicht dem Staate noch gefährlicher Atheism hätte entstehen können.“56 Der historische Glaube, der zwar manchmal den Hang zum Aberglauben habe, sei wichtig für das gemeine Volk. Es müsse aber klar zwischen Vernunftglauben und historischem Kirchenglauben unterschieden werden. Der Vernunftglaube beinhalte den guten Lebenswandel des Menschen und müsse allen Menschen durch ihre eigene Vernunft klar und überzeugend vorgelegt werden können. Er bedürfe keiner persönlichen Erfahrungsbestätigung oder Offenbarung. Jeder Mensch könne aus sich selbst, durch seine eigene Vernunft den Willen Gottes, der der vollständigen Religion zum Grunde liegt, erkennen.
„Denn eigentlich entspringt der Begriff von der Gottheit nur aus dem Bewusstsein dieser Gesetze und dem Vernunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen, welche diesen ganzen, in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effekten verschaffen kann. Der Begriff eines nach bloss rein moralischen Gesetzen bestimmten göttlichen Willens lässt uns, wie nur einen Gott, also auch nur eine Religion denken, die rein moralisch ist.“57
Sie stellen fest, dass Ihr Gesprächspartner zu seiner Erdenzeit aus rein moralischen Gründen eine höhere Macht – also Gott – annahm. Für ihn hatten die wahre Religion und der Gottglauben seinen Ursprung im moralischen Gesetz. Oder anders ausgedrückt: Für ihren Gesprächspartner würde es ohne Moral keine wahre Religion und keinen wahren Gottglauben geben. Zudem merken Sie, dass die Geschichte – der historische Glaube, wie er es nennt – von Ihrem Gesprächspartner als zweitrangig betrachtet wird. Das was für ihn zählt, ist die Vernunft: „Der reine Vernunftglaube dagegen bedarf einer solchen [historischen, MJ] Beurkundung nicht, sondern beweiset sich selbst.“58„Es mag mit der Geschichte stehen wie es wolle, denn in der Idee selbst liegt schon der hinreichende Grund zur Annahme und die freilich keine andere als reine Vernunftlehren werden sein können.“59 Er bezeichnet somit die Idee als wichtiger als die Geschichte. Was in Ihnen wiederum die Frage aufwirft, ob der Glanzpunkt der theologischen Wissenschaft – die moderne historisch-kritische Methode der Bibelauslegung60 – im Sinn Ihres Gesprächspartners als aufklärerisch bezeichnet werden kann? Er wisse zwar nicht genau, was diese historisch-kritische Methode beinhalte,