Der erste Philosoph
Während Sie so dahin gehen, begegnen Sie einem Mann, dem Sie ansehen, dass er zu seiner Erdenzeit einen starken Willen und Disziplin hatte und dem Unabhängigkeit, Freiheit und Sparsamkeit ein zentrales Anliegen waren.10 Nach der Begrüssung fragen Sie ihn, was für ihn in seinem Erdenleben wichtig gewesen sei. Er antwortet: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“11 Beide Dinge dürften nicht im Überschwänglichen noch im Dunkeln oder ausserhalb des eigenen Blickfeldes gesucht oder vermutet werden. Er habe versucht den Sternenhimmel und seine „Welten über Welten“ und „Systeme von Systemen“ mit seinem unsichtbaren Selbst, seiner Persönlichkeit, zu verknüpfen, in einer Welt, die zwar unendlich sei, aber nur durch den Verstand wahrgenommen werden könne. Diese Verknüpfung sollte aber nicht bloss als zufällig verstanden werden, wie die Sterne am Sternenhimmel, sondern sie sollte als allgemeine und notwenige Verknüpfung erkannt werden.
Sie staunen ab solch erhabener Wortwahl und vermuten, auf einen Philosophen gestossen zu sein. Ein Philosoph der versucht, seine innere Welt mit der Erhabenheit des Universums zu verknüpfen und sich über das moralische Gesetz und die Naturbeobachtung definiert. Vielleicht kann er Ihnen Auskunft geben über den viel gehörten Begriff der Aufklärung. Sie fragen ihn, was er unter Aufklärung verstehe. Der Mann schaut Sie verlegen an, überlegt und sagt zögernd, Aufklärung sei das, was in dieser neuen Welt stattfände: das Erkennen, was wirklich ist. Früher – zu seiner Erdenzeit – hätte er so geantwortet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“12 Er fügt bei, dass er rückblickend damals nur Teile der wahren Aufklärung begriffen habe.
Sie laden den Fremden ein, noch mehr von seinen Ideen und Vorstellungen zu erzählen. Und er ist so freundlich und versucht Ihnen seine Gedankengänge zu erklären. Er stellt aber zu Beginn klar, dass seine Schriften noch nie sofort verstanden worden seien. Die Klarheit der neuen Welt habe ihm zwar bereits geholfen seine Gedanken einfacher zu formulieren, doch er sei erst verhältnismässig kurze Zeit hier und deshalb könnte es sein, dass er sich immer noch kompliziert und umständlich ausdrücken werde. Er nehme sich aber gerne Zeit für Sie und Ihre Rückfragen – da Zeit ja in dieser neuen Welt keine Rolle spiele.
Vier Fragen hätten ihn zeitlebens umgetrieben: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Zuerst habe ihn interessiert, was eigentlich Wirklichkeit sei und wie die Realität erkannt werden könne. Es sei ihm um die sogenannte Metaphysik gegangen. Durch sein langes Nachdenken und Forschen sei er zum Schluss gekommen, dass wir Menschen die wahre Wirklichkeit der Welt nie wirklich erkennen könnten, weil unsere Erkenntnis immer von unserer Wahrnehmung und unserem Verstand abhängig sei. Alle menschliche Erkenntnis beginne immer mit Betrachtung und Anschauung, darauf würden Begriffe formuliert und schliesslich würden Ideen daraus gemacht. Das heisst, wir müssen erkennen, dass wir Menschen die Welt nicht rein objektiv betrachten können. Es sei eine „Revolution der Denkart“13 notwendig: Dass wir die Erkenntnis nicht mehr nach den Gegenständen richten, sondern umgekehrt die Gegenstände sich nach der Erkenntnis richten sollten. Diese neu erkannte menschliche Subjektivität müsse aber nicht zwingend negativ bewertet werden. Sie könne auch positiv verstanden werden: als schöpferischen Grund des kritischen Denkens. Diese „Revolution der Denkart“ erfordere aber eine „neue Geburt“ der Metaphysik, welche auf der Kritik der reinen Vernunft aufbaue. Wie dies zu geschehen habe, habe er Zeit seines Lebens nicht umfassend herausgefunden. Deswegen habe er später das Zentrum seines Schaffens von der theoretisch-spekulativen Philosophie (der reinen Vernunft) zur angewandten Philosophie (der praktischen Vernunft) verschoben. Er sei davon überzeugt gewesen, gerade im Gebiet des Praktischen das Unbedingte finden zu können, das er im Felde des Theoretischen vergebens gesucht habe.14 Die reine Vernunft allein könne spekulativ keine Gewissheiten begründen, deswegen könne ihr Wert nur im praktischen Gebrauch liegen. Womit wir bei der zweiten Frage angelangt seien: Was soll ich tun? Er habe die Antwort auf seine Frage im sogenannten kategorischen Imperativ zusammengefasst. Dieser hindere den Menschen daran, nach Willkür und Laune zu handeln. Er laute: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“15 Maximen seien subjektive Grundsätze, erklärt er. Man könne es auch anders formulieren: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest.“16 Damit der Mensch gemäss dem kategorischen Imperativ handeln könne, benötige er Freiheit.
Womit wir bei der dritten Frage seien: Was darf ich hoffen? Diese Frage habe auch etwas mit Glauben zu tun. Sie wenden ein, dass ein Philosoph sich nicht mit Glauben beschäftigen solle – dafür gäbe es ja die Theologen. Ein Philosoph müsse sich ausschliesslich dem Denken und dem rationalen Argumentieren widmen, behaupten Sie. Er entgegnet, er habe den Eindruck, dass Ihre Vorstellung von Philosophie von der mathematischen Methode herkomme. Das sei äusserst gefährlich, denn die mathematische Methode neige zu Dogmatismus. Wahre Philosophie sei weder Dogmatismus noch pure Mathematik. Man könne Philosophie nicht so betreiben, wie man Mathematik betreibe, sonst werde Philosophie anmassend und zur reinen Spekulation. Die reine Vernunft benötige eine praktische Erweiterung, meint er. Erst der Glaube ermögliche es dem Menschen, zu erkennen, dass er obwohl der Endlichkeit verhaftet, gleichzeitig einer übersinnlichen Ordnung angehöre, welche ihm seine eigentümliche Würde gebe. Der Mensch sei somit Bürger zweier Welten.17 Diese übersinnliche Ordnung habe als Grundlage die drei sogenannten Postulate: Freiheit des Willens – damit sich der Mensch für das Gute entscheiden könne; die Unsterblichkeit der Seele – damit das Handeln des Menschen einen Sinn erhalte – und das Dasein Gottes – welches sich aus der Moral erschliesse. Der Sinn der Vernunft sei schlussendlich die Stützung des moralischen Glaubens. Der Moral wegen seien die drei Postulate wichtig: Sie weisen dem Menschen in seiner Suche nach dem, was zu tun sei, den Weg.
Und schliesslich zur vierten Frage: Was ist der Mensch? Die menschliche Natur habe einen Hang zum Bösen: „Er ist sich des moralischen Gesetzes bewusst, und hat doch die (gelegentliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen.“18 Der Mensch sei aber vernünftig bestimmt und könne deshalb durch eine gute Erziehung aufgeklärt werden. Diese sei äusserst wichtig und solle die Kinder zum selber Denken führen. Der Mensch sei fähig, gemäss dem auf der Vernunft basierenden moralischen Gesetz handeln zu wollen. Es ginge darum, nicht einfach moralisch zu handeln, weil einem eine Strafe angedroht werde, sondern weil man mittels Vernunft eingesehen habe, dass die Einhaltung des moralischen Gesetzes erstrebenswert sei.
Die Geschichte der Menschheit zeige: Durch die Weitergabe des Erreichten von Generation zu Generation habe eine Vervollkommnung stattgefunden. Dadurch vollziehe die Natur ihren verborgenen Plan, alle ihre Anlagen in der Menschheit zu entwickeln. Der Mensch erstrebe die Gesellschaft und lehne sich doch gegen sie auf. Die Errichtung der vollkommenen gerechten bürgerlichen Gesellschaft sei die „höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung, weil die Natur [nur so] ihre übrigen Absichten mit unserer Gattung erreichen kann“.19
Er erzählt Ihnen von seiner Idee eines ewigen Friedens zwischen den Menschen. Er habe darüber eigens eine Schrift verfasst.20 Für den Titel seiner Schrift habe er sich von einem holländischen Gastwirt inspirieren lassen. Der Wirt habe in seinem Gasthof ein Bild mit einem Friedhof und dem Spruch „zum ewigen Frieden“ aufgehängt gehabt. Er habe sich immer gefragt, ob die Aussage des Bildes, dass es ewigen Frieden nur auf einem Friedhof gebe, für alle Menschen gelte oder nur für die oft kriegsführenden Staatsoberhäupter oder nur für die vom Frieden träumenden Philosophen. Er habe die Schrift über den ewigen Frieden im Alter von 71 Jahren geschrieben. Er sei damals bereits vom Lehrverbot der preussischen Zensurbehörde betroffen gewesen und habe nicht mehr an der Universität Königsberg