Der Ausdruck Spinozist habe seinen Ursprung beim niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza. Dieser habe mit seiner „Philosophie der Immanenz“27 die Frechheit gehabt, mit allen religiösen Traditionen als Quellen philosophischer Erkenntnis vollständig zu brechen, ohne vorher ein ordentliches Studium an einer aufgeklärten Universität absolviert zu haben. Und vor allem seine konsequente Abkehr von aller Transzendenz habe Ihr Gesprächspartner mit seiner eigens entwickelten Transzendentalphilosophie nicht hinnehmen können. Ob Sie eigentlich noch nie etwas von diesem Baruch de Spinoza gehört hätten, will er wissen. Das sei ein Häretiker und Atheist gewesen, der ein monströses und inkohärentes Denksystem entwickelt habe, das irrationale Züge trage. Grosse Aufklärer seiner Zeit, wie Gottfried Wilhelm Leibniz28, hätten sich, obwohl zuerst interessiert, später klar von Spinoza und seinem Denken distanziert.29 Sichtlich aufgebracht stellt Ihr Gesprächspartner fest: Eigentlich habe er sich nie mit Spinoza auseinandersetzen wollen, wenn da nur nicht dieser polemische Jacobi gewesen wäre. Aber der Reihe nach:
Es sei der deutsche Kaufmann, Schriftsteller und spätere Philosoph Friedrich Heinrich Jacobi30 gewesen, der in einem seiner veröffentlichten Briefe „Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn“31 schrieb, dass Lessing gegen Ende seines Lebens gesagt haben solle, dass er „entschiedener Spinozist“ gewesen sei. Jacobi und der berühmte Berliner Aufklärer Moses Mendelssohn32 standen schon länger in persönlichem Briefkontakt – wie so viele damalige Gelehrte und Aufklärer. Als Jacobi erfahren habe, dass Mendelssohn ein Werk über Lessing schreiben wolle, habe er sich dazu gedrängt gefühlt, über dessen Nähe zum Spinozismus zu informieren. Mendelssohn sei erstaunt gewesen und habe deshalb mehr Informationen verlangt. Darauf habe Jacobi eine ausführliche Darstellung darüber verfasst und diese Mendelssohn geschickt. Plötzlich sei aber der Kontakt zwischen beiden abgebrochen und Jacobi habe befürchtet, dass Mendelssohn die privaten Briefe in einem Buch veröffentlichen könnte. Deshalb habe er gleich selber einen Teil der Briefe mit dem brisanten Inhalt veröffentlicht. Mendelssohn publizierte kurze Zeit später einen Teil seiner privaten Vorlesungen zur Metaphysik „Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes“33 in welcher er den Pantheismus thematisierte34 und die „Axiomata“ seiner rationalistischen Demonstrationsmethode darlegte: Es gebe drei Methoden der Beweisart: Die äussere sinnliche Welt als Beweis der Existenz Gottes; Zeugnisse des inneren Sinnes („Ich bin, also ist Gott“); und „ein Gott ist denkbar, also ist ein Gott auch wirklich vorhanden“. Durch die veröffentlichten Briefe erfuhr die damalige Gelehrtenwelt, welches Verhältnis Mendelssohn, Lessing und Jacobi zum Spinozismus hatten:
Lessing: „(…) Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht geniessen. Ἓν καὶ Πᾶν! [Ein und alles!] Ich weiss nichts anders. (..)“
Jacobi: „Da wären Sie ja mit Spinoza ziemlich einverstanden.“
Lessing: „Wenn ich mich nach jemand nennen soll, so weiss ich keinen anderen.“
Jacobi: „Spinoza ist mir gut genug: aber doch ein schlechtes Heil das wir in seinem Namen finden!“
Lessing: „Ja! Wenn Sie wollen! … Und doch … wissen Sie etwas besseres?“35
Jacobi erklärte darauf, dass der Spinozismus die vollkommenste Gestalt einer jeden dogmatischen Metaphysik sei und das einzige folgerichtige System aller Begriffsphilosophie. Aus der Gefahr eines blinden Naturmechanismus und eines fatalistischen Atheismus könne aber nur ein „salto mortale“ in den Glauben retten, d.h. das unmittelbare Gefühl der Gewissheit, welches keiner Beweisgründe bedürfe. Dazu nannte er Argumente aus der Transzendentalphilosophie Ihres Gesprächspartners. Mendelssohn habe darauf mit der Veröffentlichung seiner Schrift „An die Freunde Lessings“36 reagiert und den schwärmerischen Offenbarungsglauben Jacobis kritisiert. Er verteidigte seinen verstorbenen Freund Lessing und erklärte, dass dieser sich nur einem „geläuterten Spinozismus“ verbunden gefühlt habe, welcher deutlich zwischen Schöpfer und Schöpfung unterscheidet. Spinoza selber sei zwar kein Fatalist, aber ein Pantheist gewesen, der keinen ausserweltlichen und personifizierten Gott kannte. Mendelssohn habe Kritik am klassischen Spinozismus geübt und die Philosophie der Aufklärung klar und deutlich vom Spinozismus unterschieden:
„Alles ist Eins, sagt der Pantheist. Wir sagen Gott und die Welt; er: Gott ist auch die Welt. Das Unendliche, sprechen wir, hat alles Endliche, Eins dieser Viele zur Würklichkeit gebracht; jener hingegen: das Unendliche umfasset alles, ist selbst alles, ist Eins und zugleich Alles. (…) Wir trennen also Gott von der Natur, schreiben jenem ein ausserweltliches, so wie der Welt ein aussergöttliches Wesen zu.“37
Im Gegenzug warf Mendelssohn Jacobi Atheismus vor, weil dieser sich weigere Verstandesbeweise zur Existenz Gottes vorzulegen. Diese heftige Debatte zwischen Jacobi und Mendelssohn – bei welcher beide Seiten aus unterschiedlichen Gründen den Spinozismus kritisierten – sei in aller Öffentlichkeit geführt worden. Sie nahm durch den plötzlichen Tod Mendelssohns an Dramatik noch zu.38 Er habe den Tod Mendelssohns sehr bedauert. Denn Mendelssohn sei ein sehr guter Freund gewesen, den er gerne in seinen Vorlesungen an der Königsberger Universität zitiert habe. Er habe auch Mendelssohn seinen jüdischen Respondenten Marcus Herz herzlich empfohlen.39 Mendelssohn zur Ehre habe er seine Aversion gegenüber religiösen Gebräuchen und öffentlichen Spektakel für einmal überwunden: Er habe den Zeremonien anlässlich seines Begräbnisses beigewohnt. Mendelssohn sei ein wichtiger Vertreter der Aufklärung gewesen, welcher sich gegen ein allzu elitäres und esoterisches Verständnis von Aufklärung eingesetzt habe und immer wieder die wichtige Rolle des gesunden Menschenverstandes und einer verständlichen Sprache betont habe.40 Auch habe Ihr Gesprächspartner später festgestellt, dass Mendelssohns Ideen zum Verhältnis zwischen Aufklärung und Kultur sehr weise gewesen seien. So schrieb Mendelssohn im Aufsatz „Über die Frage: was heisst aufklären?“41: „Missbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Egoismus, Irreligion und Anarchie. Missbrauch der Kultur erzeuget Üppigkeit, Gleissnerei, Weichlichkeit, Aberglauben und Sklaverei. Wo Aufklärung und Kultur mit gleichen Schritten fortgehen; da sind sie sich einander die besten Verwahrungsmittel wider die Korruption. Ihre Art zu verderben ist sich einander schnurstracks entgegengesetzt.“
Moses Mendelssohn habe mit seiner philosophischen Abhandlung „Über die Evidenz der metaphysischen Wissenschaft“42 den ersten Preis der „Königlichen Academie“43 gewonnen. Der Aufsatz Ihres Gesprächspartners erhielt lediglich den zweiten Preis. Gewisse Gelehrte bezeichneten Mendelssohn auch als „einen zweiten Spinoza“ allerdings ohne dessen Irrtümer.44 Da in der Pantheismus-Debatte durch den plötzlichen Tod Mendelssohns der klassische Vertreter der Aufklärung weggefallen sei und Jacobi noch stärker begonnen habe, die Transzendentalphilosophie Ihres Gesprächspartners zu kritisieren, konnte dieser nicht mehr länger vornehm schweigen. Er sei deswegen gezwungen gewesen, einzugreifen, auch wenn dieser Disput absolut nicht seiner Vorstellung des Ideals der „dialogischen Struktur der Aufklärung“ entsprochen habe. In seinem Artikel „Was heisst: sich im Denken orientieren?“ habe er Klartext schreiben müssen:
„Es ist kaum zu begreifen, wie gedachte Gelehrte in der Kritik der reinen Vernunft Vorschub zum Spinozismus finden konnten. (…) Männer von Geistesfähigkeit und von erweiterten Gesinnungen! Ich verehre eure Talente und liebe euer Menschengefühl. Aber habt ihr auch wohl überlegt, was ihr tut, und wo es mit euren Angriffen auf die Vernunft hinaus will?“45
Er habe in seinem Artikel die Vernunft verteidigen