Das Jenseits hat auch mit Religion und religiösen Vorstellungen zu tun. Verstehen Sie Ihr Buch als ein religiöses Werk?
Die Vorstellung eines Jenseits ist nicht nur eine religiöse Vorstellung, sondern auch eine philosophische. Es kommen in meinem Buch auch zwei Philosophen zu Wort.
Sie bezeichnen Kant und Spinoza (und auch den im Gespräch erwähnten Descartes) ausdrücklich nicht als Atheisten. Wieso?
Beim Schreiben meines Buches war dies eines der Schlüsselerlebnisse, festzustellen, dass die beiden grossen Aufklärer Kant und Spinoza keineswegs als stramme Atheisten bezeichnet werden können – obwohl sie oft als Ikonen der Atheisten herhalten müssen. Die Sprache Spinozas ist interessanterweise sehr religiös geprägt2 und zudem sehr klar und direkt. Auch die Tatsache, dass er sich so intensiv mit der Bibel auseinandersetzte und der Gottfrage das ganze erste Kapitel seines Werks „Ethik in geometrischer Weise dargestellt und in fünf Teile geschieden“ widmete, zeigt sehr deutlich, dass sein Denken ohne religiöse Vorstellungen schwer zu verstehen ist.
Ist es nicht vermessen, aus einem Philosophen wie Spinoza einen religiösen Menschen zu machen oder anders gesagt, ist es nicht unwissenschaftlich, Spinoza religiös zu vereinnahmen: Schliesslich wurde er von der jüdischen Gemeinde gebannt und seine Werke wurden auf Druck der damals in den Niederlanden herrschenden calvinistischen Kirche verboten und die katholische Kirche setzte sie auf die Liste der verbotenen Bücher?
Mein Ziel ist es nicht, Spinoza religiös zu vereinnahmen. Durch meine Recherchen konnte ich aber feststellen, dass Spinoza nicht ein wirklicher Gegner der Religion war. Für ihn gab es immer zwei Wege zum Heil: den philosophischen Weg und den religiösen Weg. Durch Denken und durch Gehorsam.3 Ich wollte ihm wie auch Kant die Möglichkeit geben, sich einmal anders zu präsentieren. Beide waren der institutionalisierten Religion gegenüber sehr kritisch eingestellt. Warum sich beide aber nicht als überzeugte Atheisten zeigen wollten, ist ihnen selbst zu überlassen. Der moderne und postmoderne Mensch tut sich sehr schwer mit Religion: Auf der einen Seite lehnt er Religion als überlebt ab und ist stets darum bemüht, ja nicht als religiös zu gelten. Er unterwirft sich sozusagen dem Primat des Rationalismus und der Areligion. Auf der anderen Seite ist er in der Not schnell bereit, irgendeinen Glauben anzunehmen und Menschen mit den unglaubwürdigsten Theorien und Vorstellungen blindlings zu vertrauen – Hauptsache es hilft.
In Ihrem Buch wird der Prophet Mose als real existierende Person dargestellt, die dazu noch einen Bezug zu den fünf Büchern Mose im Alten Testament hat. Darf man das heute noch machen?
Ich weiss: mit dieser Verbindung überschreite ich für viele Gelehrte eine rote Linie. Ich habe mein Buchmanuskript einem Orientalisten4 und einem Spezialisten der hebräischen Bibel5 zur Durchsicht gegeben. Der eine fand mein Projekt durchaus kühn und interessant, meinte aber, es sei zu Beginn schwierig gewesen, ständig zwischen der historisch-kritischen, der spekulativen und der naiv-fundamentalistischen Perspektive im Text zu wechseln. Der andere meinte, es sei mir gelungen komplexe Sachverhalte einfach und lesbar darzustellen.
Es ist Teil meines Projekts, verschiedene Sichtweisen des biblischen Texts zu kombinieren und dem biblischen Mose eine glaubwürdige Identität zu verschaffen, möglichst nahe am biblischen Text. Dies kann unzeitgemäss wirken und als naiv-fundamentalistisch verstanden werden, wird aber durch den historisch-kritischen, spekulativen Aspekt und die humorvolle Art und Weise der Protagonisten meines Erachtens mehr als ausgewogen. Humor gilt als eine der besten Waffen gegen Fanatismus.
Durch meine Recherchen für das Buch hatte ich Kontakt mit einer Rabbinerin6. Diese sagte mir, dass für sie – als Jüdin – Mose nicht so wichtig sei. Mose sei bloss der Empfänger der Tora gewesen. Es hätte geradeso ein anderer Mensch die Tora empfangen können. Das Wichtige sei, zu wissen, was in der Tora stehe und wie die Weisungen im Leben konkret umgesetzt werden können.
Ja, sagte ich, aber wenn Mose nie existiert haben soll, wer hätte dann die Tora empfangen und sie dem jüdischen Volk weitervermittelt? Sein Bruder Aaron? Nein, sagte sie entschieden, Aaron sei zwar der erste Cohen (Priester) gewesen, aber seit der Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels hätten die Priester keine Bedeutung mehr im Judentum. Es komme nicht drauf an, an wen die Tora übergeben wurde, Hauptsache sie sei nun da. Ich erwiderte, es gäbe Bibelwissenschaftler, die behaupten, dass der Pentateuch erst viel später in hellenistischer Zeit aufgeschrieben worden sei. Darauf meinte sie, das sei die wissenschaftliche Sicht der Dinge. Gemäss der jüdischen Tradition sei Mose aber selbstverständlich der Empfänger der Tora am Sinai gewesen. Ich war ein wenig erstaunt über ihre Antwort und kam zum Schluss: Vielleicht ist es besser, die Frage nach der Existenz Moses nicht ausschliesslich durch die moderne Geschichtswissenschaft beantworten zu lassen, sondern auch theologische, philosophische, religiöse und literarische Argumente einzubeziehen. Denn das Wissen über Mose und die Tora wurde nicht in Stein gemeisselt, sondern wurde von Menschen zu Menschen über Generationen hinweg weitergegeben und weiterentwickelt. Es ist für uns heute unmöglich, den realen Mose zu ermitteln. Um diesen wirklich erkennen zu können, müssten wir schon mit ihm sprechen können. Auch „historische Beweise“ würden die Existenz eines Moses nicht beweisen, sondern würden einzig davon zeugen, dass es Menschen gab, denen Mose so wichtig war, dass sie das Wissen über seine Person und seine Texte weitergaben. Schlussendlich muss dann jeder selber entscheiden, ob er oder sie diesem Wissen Glauben schenkt oder eben nicht.
Die Frage nach der Existenz Moses ist also eher eine philosophische Frage denn eine historische?
Ja und nein. Denn: Alles hat zwar eine Geschichte, aber die Geschichte ist nicht alles! Verstehen Sie mich richtig: Ich bin sehr an der Geschichtswissenschaft und ihren Resultaten interessiert. Ich finde es aber unklug, den Resultaten der Historiker blindlings zu vertrauen. Es braucht eine Art Kritik der Kritik oder einen kritischen Rationalismus, wie es der Philosoph Karl Popper nannte. Hinzu kommt, dass meines Erachtens die Wahrheit der Bibel viel grösser ist als die hypothetische historische Wahrheit hinter ihr. Ich denke, die Frage nach der Geschichte ist immer eine philosophische Frage: Was ist Geschichte, was ist Wirklichkeit? Man müsste sich eher die Frage stellen: Warum wurde aus der Person Mose der Mose der Bibel?
Und was ist Ihre Antwort?
Ich denke, Mose wurde zum Mose der Bibel, weil er den Auftrag hatte, die ihm folgenden Generationen für die Sache der Tora zu begeistern. Meines Erachtens sollte Geschichte immer dazu dienen, den Menschen im Hier und Jetzt Orientierung bei der Gestaltung ihres Lebens zu geben. Sehen Sie: Sie, ich, wir alle leben für eine gewisse Zeit auf dieser Erde. Während dieser Zeit werden wir uns ein Bild von der Zeit vor uns – also der Geschichte – machen. Dieses Bild wird immer eine Fiktion bleiben. Denn die Menschen nach uns werden unser Bild der Geschichte revidieren und ein neues, eigenes System zeichnen.
Es gibt aber Systeme, die Jahrtausende überdauert haben. Diese Systeme sind einerseits stabile aber gleichzeitig auch flexible Systeme. Ähnlich einer Hängebrücke: Sie ist stabil im Boden verankert, ist aber auch flexibel und passt sich dem Tempo und dem Gewicht der über sie gehenden Personen an. Mose ist Teil des sehr alten Systems der Bibel. Mose sollte deshalb aus der Perspektive dieses Systems verstanden werden: Die philosophisch-theologische Sicht ist somit der ausschliesslich historisch-kritischen Sicht vorzuziehen. Deswegen kommen in meinem Buch auch zwei Philosophen zu Wort. Da Mose eine uralte Figur ist, die vermutlich nie wirklich historisch erfasst werden kann, erlaube ich ihm in meinem Buch, sich gegen die historisch-kritischen Argumente, die gegen seine Existenz sprechen, erfolgreich zu verteidigen. Interessanterweise ist es für Mose gar nicht so schwierig, die gegen ihn hervorgebrachten Argumente zu entkräften – manchmal glaubwürdiger, manchmal unglaubwürdiger. Mein Vorgehen soll aber nicht missverstanden werden: Ich möchte mit meinem Buch nicht etwas beweisen, sondern schlicht und einfach die Leserin und den Leser dazu motivieren, selber zu denken (und zu glauben). Denn wie Spinoza so schön sagt: Gott ist ein denkendes Ding.7
Gasel/Köniz im Oktober 2018
„Im Anfang erschuf Gott die Himmel und die Erde. Die Erde aber war unförmlich und vermischt, Finsternis auf der Fläche