Sie wollen mehr wissen von seinem Verhältnis zur Bibel. Er erklärt Ihnen, dass kein auf die Bibel begründeter Glaube, selbst durch die verwüstendsten Staatsrevolutionen habe vertilgt werden können; „indessen dass der, so sich auf Tradition und alte öffentliche Observanzen gründete, in der Zerrüttung des Staats zugleich seinen Untergang fand. Glücklich! Wenn ein solches den Menschen zu Händen gekommenes Buch, neben seinen Statuten als Glaubensgesetzen, zugleich die reinste moralische Religionslehre mit Vollständigkeit enthält.“62
Sie sind sehr erstaunt: Der vor Ihnen stehende Aufklärer bezeichnet die Bibel nicht nur als Sammlung antiker Texte, sondern als reinste moralische Religionslehre und Grundlage eines unerschütterlichen Glaubens. Seine Lobrede auf die Heilige Schrift geht noch weiter: „Das Entstehen der Bibel als eines Volksbuchs ist die größte Wohlthat die dem menschlichen Geschlechte je wiederfahren ist. Ein jeder Versuch sie geringschätzig zu machen oder sie mit den Theophilanthropen63 gantz eingehen zu lassen ist Frevel an der Menschheit und wenn es ja Wunder geben soll so ist dieses Buch in welchem die Wundererzählungen nur zur historischen Bestätigung dessen was Religion durch die Vernunft gebietet beyläufig vorkommen das größte Wunder selbst nämlich ein ohne griechische Weisheit von Layen zusammengetragenes System von Religions- und Glaubenslehren welches mehr als irgend eines Wirkung aufs menschliche Herz zur moralischen Besserung desselben ausgeübt hat.“64
Man kann die Bibel also doch begeistert lesen und gleichzeitig die Ideen der Aufklärung gutheissen. Bibel und Aufklärung schliessen sich also nicht aus. Im Gegenteil, erklärt Ihnen der Mann, solange Aufklärung in der Welt bliebe, werde es nie ein für das Volk in Sachen der Religion „schicklicheres und kräftigeres“ Buch geben als die Bibel. Denn einem anderen aufklärerischen Buch würde „die Salbung der Geschichte“ fehlen und es könnte – aus aufklärerischen Gründen – nicht auf Wunder zurückgreifen. Das wiederum hätte zur Folge, dass es nie ein solches Ansehen erhalten würde wie die Bibel. „Die mosaische und christliche Religion wird nie aufhören als bis die Welt hierüber zur Einheit der Begriffe und der ihnen gemäßen Grundsätze der moralisch-practischen Vernunft unabänderlich wird gelanget seyn welches das Reich Gottes auf Erden seyn wird. Was man Erbauung nennt – nämlich das Gefühl der Erweckung zum besseren innern u. äussern Lebenswandel ist in ihr in der grössten Vollkommenheit anzutreffen die Bibel ist also das beste Organ desselben.“65
Sie fragen ihn, welchem Glauben er persönlich nahe gestanden habe: Er schaut Sie an und gibt zögernd Antwort: Er sei in einem frommen Hause aufgewachsen. Seine Eltern, vor allem seine Mutter, seien engagierte Kirchenmitglieder gewesen und hätten ihren Kindern eine gute Kindheit ermöglicht. Sie gehörten in Königsberg einer Kirchenfraktion an, die gesellschaftlich eher auf Ablehnung stiess.66 Dies und die Handwerker-Herkunft seiner Familie hätten ihn schon früh gelehrt, unabhängig vom Urteil anderer ein eigenes Denken zu entwickeln.67 Ausserdem habe es damals in Königsberg verschiedene andere Glaubensrichtungen gegeben. Zum Beispiel die Täufer, auch Mennoniten genannt, die über 100 Jahre vor seiner Zeit aus den Niederlanden nach Preussen geflohen seien. Diese hätten übrigens den besten Likör der ganzen Stadt gebrannt,68 auch Danziger Goldwasser genannt.69 Einfach herrlich. Der Whiskey sei von allen – inklusive ihm – sehr geschätzt geworden. Die Mennoniten seien nach einem ihrer Lehrer, Menno Simons, benannt worden. Sie seien Teil der Reformationsbewegung gewesen, welche grossen Wert auf die sogenannte Bergpredigt im Neuen Testament und die Orthopraxie gelegt hätten – also den ethisch gelebten Glauben und weniger auf die Orthodoxie – die Dogmatik. Dies habe ihn stets beeindruckt und an seine Idee der ethischen Vernunftreligion erinnert. Allerdings habe er den Geschichts- und Wunderglauben negativer interpretiert70 als Menno Simons.71
Königsberg sei eine kosmopolitische Stadt und eine wichtige Universitätsstadt gewesen, die er äusserst ungern gegen das Provinziantentum anderer deutscher Städte – wie beispielsweise Berlin oder Halle – habe eintauschen wollen. Zudem sei Königsberg während seiner Erdenzeit für fünf Jahre eine russische Stadt geworden.72 Dies sei eine spannende Zeit gewesen. Die Russen seien den Königsbergern sehr gutgesinnt gewesen und Königsberg habe von der Zeit unter dem Zar sehr profitiert. Übrigens sei die Stadt Königsberg in seinem Geburtsjahr durch den Zusammenschluss der Ortschaften Altstadt, Löbenicht und Kneiphof durch König Friedrich Wilhelm gegründet worden.73 Vielleicht sei er deshalb Zeit seines Lebens der Stadt am Pregel treu geblieben. Er habe diese grosse, weite Königsberger Welt von klein auf gekannt und schätzen gelernt. Mit der organisierten Religion habe er leider in seinen Jugendjahren sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Das Kollegium, das er besuchte, sei von sehr strengen Pietisten74 geführt worden, welche sie gezwungen hätten, jeden Tag an Andachtsgottesdiensten teilzunehmen und die einem sehr wenig Freiheit beim Lernen zugestanden hätten. Er und seine Mitschüler seien von morgens bis abends, Montag bis Samstag, voll eingespannt gewesen. Obwohl er persönlich nie atheistisch gesinnt gewesen sei, habe er je länger, je mehr nichts mehr mit dem pietistischen Glauben anfangen können. Wenn man mal den Goût des philosophischen Denkens geschmeckt habe, könne man nicht mehr zurück zu den pietistischen Glaubensvorstellungen. In einem selbst gedichteten Nachruf auf den Königsberger Theologen Lilienthal habe er geschrieben: „Was auf das Leben folgt, deckt tiefe Finsternis. Was uns zu tun gebührt, des sind wir nur gewiss. Dem kann, wie Lilienthal, kein Tod die Hoffnung rauben, der glaubt, um recht zu tun, recht tut, um froh zu glauben.“75
Zudem habe er am Ende seines Lebens die kirchliche Machtpolitik in Preussen zu spüren bekommen. Dies habe ihm klar gezeigt, dass die wahre Kirche nicht die preussische Staatskirche sein könne. Deshalb habe er in einer seiner letzten Schriften in Anlehnung an die Worte Jesu in den Evangelien76 geschrieben: „Die enge Pforte und der schmale Weg, der zum Leben führt, ist der des guten Lebenswandels; die weite Pforte und der breite Weg, den viele wandeln, ist die Kirche. Nicht als ob es an ihr und an ihren Satzungen liege, dass Menschen verloren werden, sondern dass das Gehen in dieselbe und Bekenntnis ihrer Statute oder Zelebrierung ihrer Gebräuche für die Art genommen wird, durch die Gott eigentlich gedient sein will.“77
Sie wollen von ihm wissen, was denn die wahre Kirche für ihn ausmache. Er erklärt Ihnen, die wahre Kirche müsse eine Einheit sein, welche zwar unterschiedliche Meinungen zulasse, aber in Ansehung der wesentlichen Absicht auf Grundsätzen errichtet sei, welche notwendig zur allgemeinen Vereinigung in eine einzige Kirche führen. Zudem müsse sie gereinigt sein vom Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei. Ihre einzige Triebfeder müsse das Moralische sein. Sie müsse als ein ethisches gemeines Wesen, als Repräsentantin eines Staates Gottes betrachtet werden. Sie solle weder monarchisch (unter einem Papst oder Patriarchen), noch aristokratisch (unter Bischöfen und Prälaten), noch demokratisch (als sektiererische Illuminaten) organisiert sein. „Sie würde noch am besten mit einer Hausgenossenschaft (Familie), unter einem gemeinschaftlichen, obzwar unsichtbaren, moralischen Vater verglichen werden können, sofern sein heiliger Sohn, der seinen Willen weiss, und zugleich mit allen ihren Gliedern in Blutsverwandtschaft steht, die Stelle desselben darin vertritt, dass er seinen Willen diesen näher bekannt macht, welche daher in ihm den Vater ehren, und so untereinander in eine freiwillige, allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung treten.“78
Sie fragen nochmals, warum er sich so auf das Moralische fixiere. Gott und Religion könnten doch mehr sein als nur Moral und guter Lebenswandel. Er würde Ihre Frage in der neuen Welt anders beantworten, sagt er. Aber zu seiner Erdenzeit sei er überzeugt gewesen, dass es eine übersinnliche Ordnung gebe und die Natur ihren verborgenen Plan umsetze, indem sich die Menschheit moralisch weiterentwickle. Der Fortschrittsglaube sei eben eine wichtige Vorstellung der Aufklärung gewesen. Und er sei davon überzeugt gewesen, dass Fortschritt nur durch die moralische Entwicklung der Menschheit erreicht werden könne. Denn solange die Menschen in einer geschichtlichen