In der neuen Welt habe er aber festgestellt, dass die Moral tatsächlich nicht der einzige Grund für Gott und das Leben sei. Er sei nun froh, in dieser neuen Welt zu sein, wo er alles viel klarer erkenne. Wenn er diese Klarheit schon zu Erdenzeit gehabt hätte, hätte er seine Schriften klarer und wahrer formulieren können. Dies hätte ihm in der neuen Welt eine Menge Ärger erspart. Denn die Anzahl derer, die durch seine komplizierten Schriften zu Erdenzeiten gequält wurden, sei viel zu gross.
Sie fragen ihn, ob sein grosses Interesse an der Moral durch Begegnungen mit jüdischen Freunden entstanden sei. Im Judentum seien doch die Gesetze und der Lebenswandel so zentral. Der Mann schaut Sie erstaunt an und meint, er habe zwar einige jüdische Freunde gehabt und zahlreiche jüdische Studierende unterrichtet,79 aber er habe zu seiner Erdenzeit das Judentum als „den Inbegriff bloss statuarischer Gesetze“ betrachtet und behauptet, dass das Judentum „eigentlich gar keine Religion, sondern bloss Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besonderen Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter blossen politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten.“80 Er sei der Meinung gewesen, dass die jüdischen Zwangsgesetze bloss die äussere Handlung des Menschen betroffen hätten, jedoch gar nichts mit seiner Forderung nach moralischer Gesinnung zu tun gehabt hätten. Zudem habe er bemängelt, dass die jüdische Religion keinen Glauben an ein künftiges Leben beinhalten würde und man deshalb nicht von einem eigentlichen Religionsglauben sprechen könne. Denn das Fehlen der jenseitigen Dimension des Lebens führe dazu, dass die Menschen sich nur an die Gesetze hielten, weil sie sich eine Belohnung im Diesseits erhofften, statt aus reiner moralischer Gesinnung die Gesetze zu befolgen. Deshalb habe er gefolgert, dass der christliche Kirchenglaube – abgesehen von der Geschichte – nichts mit dem jüdischen Glauben gemeinsam habe. Zu unterschiedlich seien die beiden Konzepte. Das Christentum sei „eine völlige Verlassung des Judentums“. Allerdings, ergänzt er noch, habe er auch geschrieben, dass das Judentum zur Zeit der Entstehung des Christentums nicht mehr das unvermengte, altväterliche Judentum gewesen sei, sondern „schon viel fremde (griechische) Weisheit“ enthalten habe.81
Sie sind erstaunt, wie ein so gelehrter Mann das Judentum – eine der ältesten noch zu Ihrer Erdenzeit praktizierten Religionen – als keine eigentliche Religion bezeichnen kann, noch dazu behauptet, dass das Judentum keinen moralischen Anspruch an die Lebensführung der Menschen habe. Das Argument des fehlenden Jenseits-Glaubens verblüfft Sie. Denn zu Ihrer Erdenzeit kritisierten die Aufklärer die Religionen, weil diese sich angeblich ausschliesslich für die jenseitige Dimension interessieren würden und der diesseitigen Welt zu wenig Beachtung schenken würden.
Um Ihre Vermutung zu bestätigen, wollen Sie ihn noch nach seinem Namen fragen. Doch der „König von Königsberg“82 ist schon weg. Es bleibt Ihnen keine Zeit, ihm zu sagen, dass er der Retter des Königsberger Doms gewesen sei: Denn aufgrund seiner Grabstätte, welche an der Nordseite des Doms angebracht worden war, wurde das Gotteshaus vor der Zerstörungswut der aufgeklärten sowjetischen Besatzer verschont. Im Gegensatz zum alten Königsberger Schloss und der Altstadt, welche im Krieg und danach dem Erdboden gleichgemacht wurden.
10 Uwe Schultz, Immanuel Kant : mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 25. Aufl, Rowohlts Monographien (Reinbek b.Hamburg: Rowohlt, 2001), 44–49.
11 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, [Nachdr.], Reclams Universal-Bibliothek (Stuttgart: Reclam, 1961), 253.
12 Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, Berlinische Monatsschrift, Nr. Dezember (1784): 481–94.
13 Auch „kopernikanische Wende“ genannt.
14 Wilhelm Weischedel, 34 grosse Philosophen in Alltag und Denken : die philosophische Hintertreppe, [6. Aufl.] (München: Nymphenburger, 1980), 224.
15 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 53.
16 Immanuel Kant und Christoph Horn, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007), 62.
17 Weischedel, 34 grosse Philosophen in Alltag und Denken, 225.
18 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, [Nachdruck], Reclams Universal-Bibliothek (Stuttgart: Reclam, 2012), 38.
19 Immanuel Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, Berlinische Monatsschrift, Nr. November (1784): 385–411.
20 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden : ein philosophischer Entwurf (Königsberg: Nicolovius, 1795).
21 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft (Königsberg: Nicolovius, 1793).
22 Am 5. April 1795.
23 Vgl. Immanuel Kant, „Was heisst: sich im Denken orientieren?“, Berlinische Monatsschrift, Nr. Oktober (1786): 304–30.
24 Immanuel Kant, Jens Timmermann, und Heiner F. Klemme, Kritik der reinen Vernunft, Sonderausg (Hamburg: Meiner, 2003), Vorrede.
25 1729 – 1781.
26 Gotthold Ephraim Lessing schrieb auch das berühmte Drama: Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise : ein dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen (Berlin: Voss, 1779) Uraufführung am 14.4.1783 in Berlin.
27 Yirmiyahu Yovel, The adventures of immanence (Princeton N.J: Princeton university press, 1989).
28 1646 – 1716.
29 Leibniz wollte vor der Veröffentlichung Einblick in das Manuskript von Spinozas Hauptwerk Ethik erhalten. Spinoza lehnte dies jedoch entschieden ab. Obwohl sich Leibniz zeitlebens offiziell immer von Spinoza distanziert hatte, können doch einige versteckte spinozische Inspirationen in Leibniz‘ Werk erkannt werden. Man vergleiche etwa die wichtige Rolle des Kraft–Begriffs oder des Determinismus bei Leibniz. Vgl. Daniel Schmicking in: Spinoza und Vogl, Die Ethik, XLVVII.
30 1743 – 1819.
31 Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (Breslau: Löwe, 1785).
32 1729 – 1786.
33 Moses Mendelssohn, Morgenstunden, oder, Vorlesungen über das Daseyn Gottes (Berlin: C. F. Voss und Sohn, 1785).