Gott erschuf eine zeitlose Welt. Eine perfekte Welt. Doch diese paradiesische Welt verging und Gott liess eine neue Welt entstehen. Eine Welt in und aus der Zeit. Die Welt, wie wir sie heute kennen. Die Erinnerung an die ursprünglich zeitlose Welt blieb aber in der Phantasie und Imagination der Menschen weiterhin präsent. Und die Geschichte nahm ihren Lauf.
1 Rudolf Smend, Kritiker und Exegeten: Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017), 59.
2 Elhanan Yakira bestätigt diesen Befund in: Elhanan Yakira, Spinoza and the case for philosophy (New York: Cambridge University Press, 2015), 15ff.
3 Vgl. Hélène Bouchilloux, Spinoza: les deux voies du salut, Ouverture philosophique (Paris: L’Harmattan, 2018).
4 Prof. em. Othmar Keel der theologischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz).
5 Prof. Thomas Römer der religionswissenschaftlichen und theologischen Fakultät der Universität Lausanne und des Collège de France in Paris.
6 Dr. theol. Annette M. Böckler, Fachleiterin Judentum und Dozentin am Zürcher Institut für interreligiösen Dialog.
7 Baruch de Spinoza und Carl Vogl, Die Ethik : Schriften und Briefe, 8., aktualisierte Aufl. / mit neuer Einl. von Daniel Schmicking, Kröners Taschenausgabe (Stuttgart: Kröner, 2010), 52.
8 Annette M. Böckler, Simon Bernfeld, und Moses Mendelssohn, Hrsg., Die Tora, Revision 2015 (Essex: JVFG, 2015).
Prolog
Stellen Sie sich vor: Sie sind ein typischer, (post)moderner Mensch und Sie sterben. Und entgegen aller Beteuerungen Ihres Nachbarn oder der netten Kollegin am Arbeitsplatz stellen Sie fest, dass der Tod nicht das endgültige Ende Ihrer Existenz ist: Sie erwachen nach Abschluss Ihres Sterbeprozesses in einer neuen Welt.
In einer Welt, von der Sie eigentlich schon immer vage ahnten, dass es sie geben könnte, aber woran Sie irgendwie nie wirklich zu glauben wagten, weil Ihnen seit Ihrer Kindheit vermittelt wurde, dass es nur die eine Welt, nur diese eine – sichtbare und messbare – Wirklichkeit gäbe. Nun müssen Sie feststellen, dass Sie sich in diesem Punkt getäuscht haben. Sie fragen sich: Warum habe ich nicht schon früher meiner Intuition vertraut und bin dieser inneren Idee gefolgt? Das hätte vermutlich bereits zu Ihren Lebzeiten eine spannende, erweiterte Lebensperspektive ermöglicht. Warum nur liessen Sie sich nicht auf dieses tief in Ihnen verankerte Wissen ein und sind Sie diesen interessanten Gedankengängen nicht gefolgt? Stattdessen verliessen Sie sich auf das „was man so glaubt und denkt“ und überall erzählt wird. Aber nun stellen Sie sonnenklar fest, dass niemand mehr da ist, der Ihnen sagt, was man so glaubt und denkt. Und Sie müssen beginnen, selber zu glauben und zu denken.
Sie ärgern sich, dass Sie nur selten gewagt haben, in Ihrem Leben eigene Wege zu gehen. Es nervt Sie, dass Sie all diesen Studien geglaubt haben, welche Ihnen die Wirklichkeit über Sie, Ihre Stadt, Ihr Land ja über die gesamte Welt mit Zahlen begreiflich machen wollten. Sie stellen nun fest, dass diese geschaffenen Wirklichkeiten nur Illusionen und Fiktionen waren. Denn Sie können nun zurückblicken oder besser gesagt: Sie können die Welt nun realistisch betrachten – denn Sie befinden sich ausserhalb von Raum und Zeit. Die Welt und ihre Geschichte scheint Ihnen aus dieser Perspektive so klar und verständlich zu sein – anders als all die Theorien, Hypothesen oder Studien, welche vorgaben, die Wirklichkeit zu erklären.
Sie stehen ganz alleine da und beginnen zu begreifen, dass diese neue Welt Ihnen gehören wird. „Sapere aude!“ (Wage es, weise zu sein!) ruft Ihnen eine Stimme entgegen und Sie wissen, dass diese Stimme die Wahrheit spricht. Kommt sie von diesem schon oft totgesagten Gott? Zum ersten Mal spüren Sie, was Freiheit wirklich sein könnte und wer Sie wirklich sind.
Bei jedem Schritt, den Sie tun, wächst Ihre Erkenntnis über die Vergangenheit: Sie merken plötzlich, dass Sie, obwohl Sie sich nie dazugehörig gefühlt haben, Teil der Menschheitsgeschichte sind. Der einen Geschichte aller Menschen. Egal, ob Sie nun 10, 20, 30, 50 oder gar 100 Jahre gelebt haben. Sie sind Teil der einmaligen Geschichte der Menschen. Sie beginnen zu begreifen was Geschichte wirklich ist: Sie erkennen, dass die Wahrheit der Geschichte weit mehr ist, als die Aneinanderreihung von Ereignissen und ausgegrabenen Gegenständen. Sie ist mehr als das Abbild von gesellschaftlichen Strukturen, die durchbrochen werden müssen. Sie ist mehr als in die Vergangenheit projizierte mythologische Visionen. Geschichte ist die Bühne, auf welcher sich das Drama der Natur und mit ihr das Drama der Menschheit und des einzelnen Menschen abspielt. Sie stellen fest: So lange Sie lebten, waren Sie Teil dieses Dramas und nun sind Sie Zuschauer – aber nicht nur. Auch wenn Sie schon zu Lebzeiten versuchten, Zuschauer und Kritiker zu sein: Nun sind Sie ein ganz anderer Zuschauer. Denn Sie beginnen zu begreifen, was Wahrheit ist und wer Gott sein könnte.
Sie wagen den ersten Schritt in die neue Welt. Und Sie stellen fest, dass Sie nicht alleine sind in der neuen Welt. Auf Ihrem Weg begegnen Sie verschiedenen Menschen aus der Geschichte. Zu Ihrer Verwunderung können Sie problemlos mit ihnen kommunizieren. Alle sprechen dieselbe Sprache oder besser gesagt, jeder versteht des anderen Sprache. Sie stellen auch fest, dass der in der Geschichtswissenschaft oft beschworene garstige breite Graben9 zwischen Ihnen und den Menschen vor Ihnen zugeschüttet ist und Sie problemlos mit Menschen aus älteren Epochen sprechen können. Ohne aneinander vorbei zu reden. Sie verstehen sie und Sie werden von ihnen verstanden. Durch die Gespräche erhalten Sie einen neuen Zugang zur Geschichte. Sie verstehen nun, dass Geschichte mehr ist als die Rückprojektion des Heute in die Vergangenheit. Als das „Richten“ der Vergangenheit mittels Befragung von Zeugen – seien es Manuskripte, Inschriften, Texte, Objekte, Gegenstände oder antike Bauten. Sie hören nun Geschichten von Menschen, wie Sie einer sind. Und all diese Personen, die Sie früher zu beurteilen oder zu richten versuchten oder die Ihnen unnahbar zu sein schienen, stehen Ihnen nun gegenüber. Von Angesicht zu Angesicht. In ihrer wahren Identität ohne geschichtlichen Graben. Sie treten in Dialog mit ihnen, mit Sympathie, ohne Vorurteile.
Als Sie so dahingehen, überlegen Sie sich, wer Ihr Denken und Ihren (Nicht-)Glauben in Ihrem Erdenleben stark beeinflusst haben könnte. Begriffe wie Aufklärung und Moderne kommen Ihnen in den Sinn. Ja, Sie waren ein aufgeklärter, moderner Mensch. Das gehörte sich damals so. Und Sie erinnern sich zurück, dass Sie vor langer, langer Zeit einmal begonnen hatten die Bibel zu lesen. Sehr schnell waren Sie fasziniert von diesen alten Geschichten, die Ihnen wie aus Ihrem persönlichen Leben gesprochen vorkamen. Die Ihnen den Horizont öffneten für eine Welt hinter der realen Welt, die Ihnen den Zugang verschafften in eine zeitlose Welt. Sie erhielten dadurch eine neue Perspektive auf Ihre Zeit. Doch mit der Zeit verloren Sie Ihre Begeisterung für die biblischen Geschichten. Denn die Wissenschaft habe doch eindeutig bewiesen, dass die biblischen Geschichten im Prinzip Märchen seien, die keine eigentliche Bedeutung für uns heute haben würden, wurde Ihnen gesagt. Sie zogen die Konsequenzen daraus und legten das Buch der Bücher – die Bibel – für immer weg. Sie wollten ja schliesslich nicht als naiv und unaufgeklärt gelten. Aber in dieser neuen Welt stellen Sie nun fest, dass es viel naiver und unaufgeklärter war, diesen Menschen blindlings zu glauben, statt sich selber auf den Weg zu machen. Sie sagen sich, wenn ich es schon zu Erdenzeiten verpasst habe, selber zu denken und zu glauben, dann werde ich es wenigstens jetzt in der neuen Welt tun.
9 Vermutlich war der deutsche Dichter und Philosoph