Daß unsere Toten für sich selbst nur einen Tod sterben müssen, sollte uns ein Trost sein. Wir haben es schwerer. Denn in uns sterben sie viele Tode, und jeder Tod erneuert den Schmerz um sie.
Drei Tage lang regnete es. Das Jagdhaus war eingeschlossen von Wasser. Der Wald blieb ausgestorben, und vom Fluß her blies ein tückischer Westwind. Zuweilen gab es auch Regenpausen, in denen Wolffenau auf Pilzsuche gehn konnte. Jedesmal brachte er eine tüchtige Ernte mit nach Hause. Selbst Steinpilze konnte man bei diesem menschenvertreibenden Wetter finden. Jeden Abend briet er sich eine große Portion in der Pfanne. Es hätte gut für zwei gereicht. Ja — er wartete auf Maria Andersson.
Als er an diesem Nachmittag unbedingt ins Dorf mußte, weil er nichts mehr zu rauchen, nichts mehr zu trinken und kein Brot mehr hatte, heftete er einen Zettel an die Tür, in dem er sie bat, zu warten. Er würde sich beeilen, wiederzukommen. Und nun lief er atemlos die drei Kilometer zurück. Zwei Flaschen Wein, gekauft für ein unsinniges Geld, hatte er in seinem zum Tragkorb umgearbeiteten Koffer. Wenn er noch viele solcher Dummheiten machte, würde er mit seinem bißchen Geld bald zu Ende sein und früher an die Arbeit gehen müssen, als er wollte. Oder Paul I. um Geld angehn. Sicherlich würde er noch über ein beträchtliches Vermögen verfügen. Zwei seiner Fabriken liefen schon wieder. Die Bäuerin Pulvermann, die ihm in letzter Zeit manchmal ein Brot schenkte, weil er zu mager sei und „Männer immer viel essen müssen“, hatte es ihm gerade erzählt. Es war übers Radio gekommen. Paul dem Ersten stand also das Radio schon wieder zur Verfügung! „Dem Tüchtigen hilft Gott“, würde er sagen. Das war seine einzige Beziehung zum Himmel. Nein ... er wünschte nicht, von seinem Vater Geld zu nehmen. Das hatte er seit sechzehn Jahren nicht getan, und er würde es nie tun. Lieber als Maurer gehn.
Da lag also die Hütte im Regen. Eine sehr elegante Lösung würde das werden mit dieser leisen Rundung der Mauer, die dem Jagdhaus etwas Abweisendes geben würde, etwas „an und für sich Seiendes“, wie Cassembert es ausdrücken würde. Wenn der alte Bröseke ihm noch ein paar Balken lieferte, würde das Dach bald fertig sein. Schon waren die ersten Balken aufgesetzt.
Er ging sehr schnell auf seine Tür zu. Der Zettel war weg. Also hatte sie ihn gefunden und war da. Nein ... die Tür war verschlossen. Als er den Schlüssel hinter einem Balken vorkramte, sah er das Papier auch liegen, vom Wind heruntergerissen, aufgeweicht und verschmutzt. Er nahm es und öffnete. Drinnen zündete er das Feuer an und warf den Zettel hinein. Strafe muß sein. Ärgerlich schnitt er sich ein Stück Brot und entkorkte eine Flasche Wein. Mußte er etwa auch mit dem Wein auf sie warten? Das wäre ja noch besser! Das war doch das einzig wirklich Schöne an seiner Zurückgezogenheit gewesen, daß er einmal ganz und gar nicht abhängig gewesen war von einer Frau, daß er keine Rücksicht zu nehmen hatte, schlafen konnte, wann er wollte, aufstehn, wann es ihm paßte, arbeiten oder nicht arbeiten, wie ihm zu Sinne war, lesen, wann er mochte und solange es ihm Spaß machte. Er holte sich Gerberstedts „Stimme Gottes aus Masuren“ aus der Ecke und setzte sich bequem. Eigentlich schade, daß er Gerberstedt kannte und nun sein fleischiges Gesicht vor sich sah, die hinter der dunklen Brille versteckten Augen und daß er sein breites Ostpreußisch hörte. Man geht ja auch nicht in Unterhosen auf die Straße, hatte die Andersson gesagt. Er schmunzelte. Dann las er.
„Gott hat die Welt so geschaffen, wie sie ist, und hat es dem Menschen nicht gegeben, die Vollkommenheit der Schöpfung zu erkennen, die ja da sein muß, da Gott vollkommen ist und die Welt seine Emanation. Was wir also an Unvollkommenheiten sehn, das ist nicht tatsächlich da, sondern liegt an der Unvollkommenheit unseres Sehns, Begreifens und Fühlens. Je besser wir sehn lernen, je tiefer wir begreifen, je demütiger wir fühlen und uns einfühlen, um so mehr nähern wir uns der aus Gott kommenden Vollkommenheit der Schöpfung. Statt nun aber diesen schwierigen Prozeß auf sich zu nehmen, durch welchen sich in einem wahren Gottesdienst der Zustand der Welt ständig verbessern würde, wählen die Menschen den bequemen Weg des Reformatorischen und Revolutionären. Durch Reformationen und Revolutionen glauben sie den Abgrund zwischen der eignen Unvollkommenheit, die sich in Abfall und Sünde immer wieder erneuert, und der Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung überbrücken zu können. Ach, — die Reformatoren bauen kühne Brücken, direkte Zugänge zu Gott und glauben vor seinem heiligen Antlitz bestehn zu können, glauben mit ihren Eulenaugen in das Licht der Ewigkeit blicken zu dürfen, ohne zu erblinden. Aber sie werden blind und ihre Schritte unsicher, und so stürzen sie von den Brücken und ziehn die Verführten mit sich. Und die Revolutionäre, die Prediger einer ungöttlichen und darum auch unmenschlichen Gleichheit alles Geschaffenen, die Bilderstürmer gegen die heiligsten Bilder der gottgegebenen Hierarchie und Gestuftheit, die Ungläubigen, die mit ihrer eigenen schwachen Kraft den Himmel auf Erden zu verwirklichen versprechen und in ihrem luziferischen Hochmut uns wieder und wieder die Hölle bereiten, brechen sogar die Brücken ab, entzünden sie, und ganze Völker müssen mit ihnen verbrennen.“
Paul ließ das Buch sinken. Warum blieb er bei dieser sorgsam abgewogenen, dieser etwas einförmigen, feurigen Sprache kalt? Hatte Gerberstedt etwa nicht recht? Was hatte das Revolutionäre, was das Reformatorische über die Welt gebracht? Hölle, Krieg und Schwefel. War es nicht tatsächlich so, daß die Bemühungen des Menschen um die Verbesserung der Welt erst recht alles verdarben? War nicht die große Geduld, das gläubige Einfühlen in den Willen des Schicksals das einzige, was die Menschen noch nicht versucht hatten? Denn sonst: wie waren sie eifrig, wie waren sie bemüht, wie kämpften sie tapfer, unter ungeheuren Opfern! Für gute, leicht einsehbare Verbesserungen, für vortreffliche, segensreiche Einrichtungen, für biologische, ökonomische, philosophische Erkenntnisse, die umzusetzen eine Kleinigkeit war, wenn die Menschen sich nur ein bißchen Mühe gaben. Welche Einsicht, welcher gute Wille, welche Art von Vernunft war noch nicht in Worte gefaßt und in Aufrufen und Dekreten ans Licht gekommen? Und das Ergebnis? Null. Kein Glück, kein Friede, keine Vernunft, nicht die einfachste Möglichkeit, daß auch nur zwei Menschen in Frieden miteinander leben konnten. Also mußte man alles so laufen lassen, wie es lief? Und mußte die Reformatoren und Revolutionäre schleunigst immer gleich in den Abgrund werfen, aus dem sie emportauchten, ehe sie die Menschheit in weiteres Unglück hineintreiben konnten? Ja — von diesen aufgeregten Zeiten her, in denen alles umgestürzt war und das Unterste, das durchaus nicht das Beste war, zu oberst gekehrt, in denen sich Menschen zu Herren der Menschen machten, die gar nichts vom Menschenwesen wußten, in der das Diktatorische die Menschen legionenweise im Dienste von revolutionären Ideen aufopferte, und nichts kam dabei heraus ... von hier aus gesehn hatten die ruhigen Zeiten, die gleichmäßigen, in Gott lebenden Epochen vielleicht etwas Anziehendes, und Gerberstedt hatte es leicht, für sie zu werben.
Aber so einfach lagen die Dinge doch nicht. Die Frommen und Geduldigen hatten ja auch eine Zeit ihrer Herrschaft gehabt. Oder wenigstens hatten sie Macht ausgeübt durch ihre Kirchen. Wie kam es denn, daß die Kirchen unfähig waren, die soziale Frage zu lösen, daß sie hinter allen Entwicklungen der materiellen Welt dreinstolperten und der kleine Mann erst in der Hölle eines menschenunwürdigen Daseins verschmachten mußte, ehe sie sich überhaupt auf sein Dasein besannen? Warum war die katholische Kirche nicht die Fürsprecherin, nicht die erste Führerin des Proletariats gewesen, damals, als es wirklich noch ein Proletariat gab? Wieso forderte sie nun, da die Proletarier aus eigener Kraft zu Arbeitern, zu gleichberechtigten Menschen geworden waren, daß sie sich bei ihr bedankten? Mochte es nicht in den Lehren der Kirche und schon gar nicht in den Lehren Jesu begründet sein ... wer wollte denn leugnen, daß bei Begräbnis und Taufe, bei Hochzeit und Kommunion die Reichen auf den besseren Plätzen saßen, daß sie die angesehenen Mitglieder der Gemeinde waren und daß es demnach immer so aussah, als ob auf Erden jedenfalls die Reichen Gott wohlgefälliger seien als die Armen! Er erinnerte sich noch genau, mit welchen demütigen Verbeugungen die Prälaten und Kaplane und Pfarrer in das Haus seines Großvaters Alexander Wolffenau gekommen waren und wie die Pastoren und Superintendenten seinen Vater untertänig behandelten, der auf Wunsch seiner hugenottischen Frau, der Komtesse Mossigny, zum Protestantismus übergetreten war. Die Reformationen und Revolutionen richteten sich also nicht immer, wie es Gerberstedt behauptete, gegen Gott, sondern manchmal auch gegen seine kleinen und