Er ging gedankenverloren weiter, überquerte die Autobahnschneise, stolperte über eines der schon fast zugesandeten Gleise, erwachte aus seinen Gedanken und mußte schallend lachen. Wenn der Mensch sich vor den Menschen zurückzog, so war das nichts anderes als eine Bankrotterklärung, nein, ein Hochmut, ein ängstliches Bewahren und Hüten jenes kleinen Lebensflämmchens. Es war freilich einfach, nur mit sich selbst zu leben, nur mit sich selbst zu kämpfen und das Gegenteilige, das Feindliche draußen zu lassen. Es war einfach, sich in der Zelle zu bewähren und zu bewahren. Tapfer aber war es, sich in den Kampf hineinzustürzen, den jedes Zusammenleben mit anderen eben bedeutet. Man mußte sich nur die romantischen Faseleien aus dem Herzen reißen, den Irrglauben, daß es gewissermaßen von selbst und natürlicherweise eine Harmonie zwischen Menschen geben könne, oder gar daß diese Harmonie, in der sogenannten Liebe, aus Himmelshöhen wie die Taube des Heiligen Geistes über die Menschen herfiel ... Nein. Harmonie, der Klang der ewigen Sphären, der zuweilen zwei oder zehn oder auch die tausend Mitglieder einer Gemeinde zum Mitklingen brachte, diese Harmonie stand am Ende eines erbitterten Kampfes mit dem Leben. Und wenn er jetzt in den wenigen Wochen der Einsamkeit zuweilen von ihr angerührt worden war, so hieß das nur, daß man, erschöpft vom Kampfe, sich zuweilen zurückziehen muß, um wieder ein wenig zu Kräften zu kommen. Aber dann ... ja, es war Zeit, daß er wieder aufbrach. Er wußte es schon seit ein paar Tagen, und es war geradezu lächerlich, daß er, wie er jetzt erkannte, diesen Aufbruch nur aufgeschoben hatte, weil Maria Andersson, eine Frau, die ihn gar nichts anging, aufgetaucht war.
Er beschloß, während er langsam durch den Buchenwald schlenderte, der durch die Einschläge der letzten Jahre schon ziemlich licht geworden war und bald ganz abgeholzt sein würde, auch ein Opfer menschlichen Wahnsinns, kriegerischer Vernichtungswut — er beschloß, Brösekes Jagdhaus noch fertigzumachen. Teils wollte er das, um dem Alten für die Gastfreundschaft zu danken, teils auch, um die kleine, hübsche Idee ganz zu verwirklichen, die er für die Restaurierung gehabt hatte, um also neben jenem einen Haus in Heidelberg noch ein kleines Werkchen auf dieser Welt stehn zu haben. Das würde noch acht Tage in Anspruch nehmen, und dann war er frei. Frei wofür? Ja, da war wieder dieses verdammte Wort wofür, gut für Dilettanten, Träumer und Idealisten, schlecht für Menschen, die nach einer schlimmen Niederlage wieder in den Kampf hinaus mußten, dessen Ende nicht abzusehen war. Wofür? Um die Kraft zu nutzen, die in ihm steckte und die in diesem Augenblick mit einer lustvollen Gewalt sein Herz überströmte, seine Muskeln spannte und seine Gedanken wie feurige Pferde antraben ließ.
Er ging die letzten paar hundert Meter sehr schnell, voller Arbeitslust. Das Dachgestühl mußte unter allen Umständen noch fertig werden. Etwas atemlos bog er um die Ecke. Auf einem Stuhl, den sie in die Sonne gerückt hatte, saß Maria Andersson. Die Milchkanne neben ihr war mit Brombeeren gefüllt.
„Ich hätte Ihnen gern geholfen“, sagte er etwas vorwurfsvoll statt einer Begrüßung.
Sie streckte ihm die Hand entgegen und antwortete: „Man soll die Männer nie mit hausfraulichen Dingen bei ihrer so wichtigen Arbeit stören.“ Sie trug wieder das Gabardine-Kostüm. Dazu aber eine weiße Bluse, die sie auch auf dem Bahnhof getragen hatte, ihre eigene also. So ganz gleichgültig, stellte Paul fest, ist es ihr doch nicht, wie sie den Männern gefällt. Denn sonst würde sie nicht jedesmal etwas anderes anziehn. „Ich bin nur wegen des Zuckers gekommen“, sagte sie. „Ich versprach Ihnen doch Marmelade, statt des Zehnten, den Sie als Grundherr verlangen können.“
„Können Sie denn in Ihrer Bude kochen? Oder leben Sie bei der berühmten Hausfrau, die Ihren Topf immer beiseite rückt, ehe er kocht?“
Sie seufzte, und wieder umschattete sie die grenzenlose Melancholie: „Das ist es. Ich werde mein Versprechen gar nicht erfüllen können. Es fehlt der eigne Herd, der goldeswerte.“
„Sie können ja hier kochen“, sagte Paul und ärgerte sich im selben Moment darüber. Denn er hatte sich auf seine Arbeit gefreut.
Sie besann sich einen Augenblick. Dann sagte sie: „Gut ... wenn Sie derweilen Ihren Kram machen.“
Paul heizte den Ofen mit Kienäpfeln und Tannenreisig, so daß die Platte bald glühte. Er stellte ihr seine Emaillewaschschüssel als Einkochtopf zur Verfügung, dazu den Zucker, einen großen Holzlöffel und eine grüne Schürze, die er in Klosters’ Kaufhaus aus irgendeiner Ecke herausgezogen hatte. Anfertigungsjahr 1913, Preis 1,20 Mark. Ein prächtiges Stück, durabel und von bester Farbe, wie man sie sonst nur noch in Kinderbilderbüchern von Hausknechten getragen sieht. Es war sogar noch eine kleine Messingkette daran, mit der man die Schürze zuhaken konnte.
„Steht Ihnen großartig“, sagte Paul. „Sie gehören überhaupt nicht in diese Zeit, sondern hätten 1913 mit siebzig Jahren sterben müssen.“
Sie lachte: „Wer gehört denn überhaupt in diese Zeit? Oder kennen Sie einen, der sich in diesem vollkommenen Blödsinn wohlfühlt?“
„Ja, einen ... mich“, sagte Paul vergnügt und ging an seine Arbeit. Die Sonne schien noch immer recht kräftig. Er stand auf einer kleinen Knüppelleiter, die er sich selbst verfertigt hatte, die Hemdsärmel aufgekrempelt, den Kragen aufgeknöpft, in langen, grauen Flanellhosen, die eigentlich für die Arbeit viel zu schade waren und zu deren Schutz er die grüne Schürze erworben hatte. Na ... das war nun nichts mit der grünen Schürze. Eifrig schimpfend und vor sich hinbrummend fügte er die letzten Balken. Drinnen pfiff Maria vor sich hin. Es klang wie fernes Vogelgezwitscher.
Nach einer Stunde kam sie heraus, den Holzlöffel vorsichtig vor sich her tragend. „Probieren“, rief sie zu ihm hinauf und reichte ihm den Löffel. Er schmeckte sorgfältig. „Kann ich noch nicht beurteilen nach dem bißchen“, sagte er ernst. Sie brachte ihm einen zweiten Löffel und einen dritten. Endlich sagte er: „Es scheint nicht ganz schlecht zu sein. Heute abend gibt es Grießbrei mit Brombeermarmelade.“
„Können Sie Grießbrei kochen?“ fragte sie.
Er sah sie von oben her kopfschüttelnd an. „Natürlich nicht. Aber Sie können’s ja. Milch steht unterm Stuhl, Grieß neben den Schuhen. Zucker werden Sie ja hoffentlich nicht allen verbraucht haben. Also marsch.“
Sie sah zweifelnd zu ihm hinauf. Er aber schnarrte im Kommandoton: „Was stehn Sie denn noch hier rum? ’n bißchen dalli!“
„Alle Frauen werden artig, sobald es militärisch zugeht“, lachte sie und ging ins Haus.
„Wenn die Frauen nicht so fürs Militär gewesen wären“, rief er ihr nach, „die Männer hatten’s schon lange dick.“
Sie streckte den Kopf zum Fenster heraus und sagte: „Natürlich. Nur die Frauen sind marschiert, nur die Frauen haben geflaggt und trompetet.“ Gleich darauf hörte er sie wieder pfeifen.
Nach einer halben Stunde trat sie aus dem Haus. Sie hatte die Schürze abgebunden und einen kleinen verwegenen Hut aufgesetzt, einen hellgrünen Filzhut mit einer bunten Spielhahnfeder. Der gab ihrem Gesicht etwas Shakespearisches.
„So zwischen Sommernachtstraum und Was ihr wollt“, rief er, auf den Hut deutend.
Sie errötete unwillig und sagte: „Der Grießpudding steht im Wasserbad. Die Marmelade habe ich geteilt, zwei zu drei für Sie. Adieu.“
Er sprang von der Leiter und faßte sie um die Schulter. „Brrrr“, sagte er, „nicht immer gleich durchgehn. Jetzt wird erst gegessen.“
Sie machte sich unwillig los.
Er sagte: „Habe ich Sie mit Shakespeare gekränkt? Waren Sie mal erste Salondame in Erfurt oder Gera oder gar in Augsburg?“
Sie schwieg.
„Na ... reden Sie sich mal ein kleines Eckchen vom Herzen“, ermunterte Paul sie freundlich. „Oder soll ich es Ihnen erzählen? Komisch, daß ich darauf noch nicht gekommen bin. Gute Familie. Vater Oberamtsrichter.“
„Schlimmer: Pastor.“
„Naturtalent.