Bald darauf erschien er mit dem Essen. Als Tisch wurde ein Haufen behauener Ziegelsteine benutzt. Maria aß mit einem Heißhunger, den sie nur mühsam bezähmte.
„Wir können auch Pilze finden“, sagte Paul. „Ihre Leute essen sicher gern auch mal was anderes.“
„Ich bin ganz allein“, entgegnete sie, „das wissen Sie recht gut.“
„Woher soll ich das wissen?“ fragte Paul.
Sie reichte ihm mit einem seltsamen Ernst die Hand über die Ziegelsteine weg. „Daher“, erwiderte sie, „genau wie ich weiß, daß Sie ganz allein sind. Die Luft um Sie. Darin gibt es keine Menschen.“
„Meine Eltern zum Beispiel leben noch“, sagte er hartnäckig.
„So?“ sagte sie uninteressiert. „Dann sind Sie ja noch ganz gut dran.“
„Ihre Leute ...“, versuchte Paul und machte eine Bewegung, die heißen sollte: Alle tot.
Maria Andersson griff statt einer Antwort in die Kartoffelschüssel und legte sich noch einmal auf. Während sie die Kartoffeln zerteilte und sorgfältig Pilze darüberbreitete, blickte sie aufmerksam auf den Teller. „Und dann“, sagte sie bitter und kühl zugleich, „hat man wieder den besten Appetit. Komisch, nicht wahr?“
„Ich finde das sehr schön“, sagte Paul trotzig. Er sagte es schärfer, als es eigentlich notwendig war. Denn dies war es ja eigentlich, was ihn beunruhigte: daß er nach allem Geschehenen, nachdem er hinabgeworfen war in das Tal vollständiger Resignation, hinausgeworfen aus allem, was ihm bis dahin das Leben bedeutet hatte, im Grunde ganz vergnügt, ganz lebendig hier in der Jagdhütte hauste. Daß er geglaubt hatte, an seiner Arbeit zu hängen — und hatte sie nicht mehr. Daß er gemeint hatte, stolz zu sein auf seine paar Häuser, die wirklich gut waren, Wohnhäuser, in denen man ein anständiges, von außen ungestörtes Leben führen konnte — und diese Häuser waren alle vernichtet (bis auf eins am Neckar, unweit Heidelberg). Daß er geglaubt hatte, Freunde zu haben, an denen er hing, mit denen er herrliche Gefechte gehabt hatte um die letzten Dinge — und sie waren verschollen, gefallen, in den Trümmern der Städte untergegangen, in den Steppen Rußlands verschwunden, und er lebte weiter. Weßmer, der Anwalt, Rohleder, der Philosoph, Klinder, der feinsinnige Antiquitätenhändler, Wollenhaupt, der exzentrische Dramatiker mit dem kahlen Schädel, dem schütteren Lachen und dem herrlichen Chopinspiel. Weg waren sie, und sein Leben ging weiter, war scheinbar nicht ärmer geworden. Und Gertie, die Frau, die er sich so mühsam erobert hatte, nein ... nicht mühsam, sondern in einer einzigen rasenden Attacke, in einem Furioso der Leidenschaft, das ihn zwei Monate lang völlig aus der Bahn geworfen hatte, Gertie, mit der ihn bis zum letzten Tage eine immer neue Leidenschaft verband, eine romantische, witzige, helle Zuneigung, Gertie war tot. Damals, in den Anfängen ihrer Liebe, als sie noch die Frau des Großindustriellen Höhdewald gewesen war, war er sogar beinah für sie in den Tod gegangen, in einen leichtfertigen, herausgeforderten Tod. Für drei Stunden konnte er sie in Berlin treffen, und er saß in Wien. Auf dem Flugplatz war Startverbot. Denn es wehte ein Orkan, wie er nur alle zehn Jahre einmal über Mitteleuropa dahinrast. Und er hatte einen tollkühnen jungen Piloten überredet, ihn für 2000 Mark nach Berlin zu fliegen. Ein völlig wahnsinniger Flug. Die kleine Maschine trudelte dreimal beinah ab. Und beim Landen wurde sie fast gegen die Abfahrtshallen von Tempelhof gedrückt. Aber er kam an, und er sah Gertie, für eine halbe Stunde allerdings nur, und verriet ihr nichts davon, was er ihretwegen unternommen hatte, und sie nahm es auch als ganz selbstverständlich hin. Ein Orkan über Europa — das war noch lange kein Grund, sich nicht zu treffen. Es war also wirklich eine Liebe gewesen, fast ohne die Niederungen des Alltags, so wie man sich eine Liebe wünscht und sie eigentlich nie bekommt. Und nun war Gertie tot, und er lebte weiter. War das nicht eigentlich eine Schweinerei? Gehörte es sich nicht, nun auch mit Anstand in den Tod zu gehn?
„Ich esse Ihnen zuviel“, lachte die Andersson.
Er wachte aus seinen Gedanken auf. „Warum?“
Sie antwortete: „Nein — ich weiß schon, warum Sie so zornig blicken.“
Er stand auf und räumte das Geschirr ab. Er ließ es zu, daß sie ihm jetzt dabei half.
„Wollen wir gleich abwaschen?“ fragte sie.
„Nein .. nachher. Jetzt scheint die Sonne zu schön.“
„Nachher haben Sie doch Besuch?“
Er tippte sie leicht auf die Schulter: „Das war gelogen. Ich habe keinen Besuch.“
Sie sah ihn spöttisch an. „Ich dachte, Sie sind ein kluger Mann?“ Und als er sie fragend anblickte: „Soviel könnten Sie schon kapiert haben: Ich bin keine Klette. Mich wird man ziemlich leicht los.“
„Ja ... das merke ich. Sie hängen an gar nichts.“
Sie wandte sich schnell ab und ging vor ihm aus der Tür hinaus. Die Sonne schien mit herbstlicher Stärke und Milde auf die Autobahnschneise. Es lagen noch rostige Gleise dort, umgekippte Sandkarren. Sie fanden sogar, von Laub und Sand zugeweht, eine Spitzhacke, die Paul triumphierend als Strandgut erklärte und mit sich nahm. Vielleicht, so meinte er, werde er noch einen Keller unter dem Jagdhaus ausheben, und dafür brauche er eben diese Spitzhacke.
„Sie wollen also für immer hierbleiben?“ fragte sie.
„Was heute so für immer ist. Vierzehn Tage, drei Wochen oder auch drei Tage. Und Sie?“
Sie zuckte die Achseln. „Ich bin auch so ein Zigeuner“, sagte sie. „Aber ich tauge nicht sehr gut dafür. Irgendwohin müßte man eigentlich gehören, nicht wahr?“
Er lachte: „Ich glaube, das ist nur eine Gewohnheit und ein Vorurteil.“
Zum ersten Male lächelte sie von innen her. Das sei ein neuer Gedanke, so habe sie das noch nie angesehn. Sie wolle mal ein paar Tage darüber nachdenken.
„Wünschen Sie noch ein paar neue Gedanken? Ich habe immer ein paar Dutzend auf Lager“, fragte Paul übermütig.
Sie lachte: „Nein, danke. Das genügt erst mal für mein kleines Gehirn. Richtig nachdenken strengt mich sehr an, und es ist ja auch nicht gut.“
„Sie haben wohl Angst, daß Klugheit häßlich macht“, spottete Paul.
Sie antwortete lange nicht. Aber ihr Gesicht war wieder auf die seltsame und gefährliche Art verdunkelt, die eine vollständige seelische Erschöpfung verriet. Endlich sagte sie sehr ruhig: „Es ist mir völlig egal, ob ich häßlich oder schön bin.“ Und wieder nach einer Weile: „Das glauben Sie nicht. Aber es ist so. Tatsächlich.“
„Dann wären Sie keine Frau“, sagte Paul eigentlich mehr, um etwas zu sagen, und er ärgerte sich schon im Sprechen, daß er bei dieser Frau, bei der man Phrasen doch anscheinend nicht nötig hatte, eine solche Phrase gebrauchte.
Und sie antwortete auch genau das, was er erwartet hatte, nämlich: „Da haben Sie recht, ich bin keine Frau, keine Frau mehr.“ Und unheimlich ruhig setzte sie hinzu: „Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, sprechen Sie nicht mehr von mir. Das hat keinen Zweck.“ Sie sagte das so abschließend, daß Paul nicht weiter fragen konnte.
Es wurde dann ein schöner, friedlicher Nachmittag. Wie so oft an Herbsttagen nahm die Sonne in den späteren Stunden an Kraft zu. Sie standen fast die ganze Zeit an einer großen Brombeerhecke, die sich über eine alte Lichtung hinwegzog. Manchmal verschwand Maria fast ganz zwischen den bunten Brombeerranken, und er sah nur das blaue Kopftuch und das runde, zarte Gesicht, das sich langsam unter der Sonne mit einem Hauch von Rot überzog.
Sie pflückten beide eifrig, und die ziemlich große Milchkanne war endlich ganz gefüllt. Etwas erschöpft saßen sie schließlich am Rande der Hecke, die noch lange nicht abgeerntet war.
„Ich werde morgen wieder pflücken“, sagte Maria mit einem hausfraulich-sorgenden Gesicht. „Und nun finde ich den Weg auch allein.“
„Was wollen Sie denn mit den vielen Beeren, wenn Sie niemanden haben?“
„Sie