Es wächst schon Gras darüber. Walther von Hollander. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walther von Hollander
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711474570
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zu können. Ein famoser Trick eigentlich, der, wie man es gesehn hatte, auch dann noch zog, als die Throne versunken waren und die Altäre ihre Macht eingebüßt hatten. Selbst der Diktator bemühte die Vorsehung und den Allmächtigen, um jede gegen ihn gerichtete Aktion, ja jede Mißbilligung als Gotteslästerung mit dem Tode bestrafen zu können. Nein, nein ... die Gläubigen machten es sich zu bequem. Durch ihr Versagen war der Glaube zu Trümmern und Schutt verfallen. Es war nicht möglich, aus den gleichen Steinen und mit längst Stein gewordenem Mörtel einen neuen Glauben zu errichten. Es hieß also: neue Steine brechen, neuen Mörtel mischen, neue Pläne zeichnen, neue bescheidene Arbeiter heranziehn. Aber das alles war nicht seine Aufgabe. Er war ja ein Ungläubiger, ein ganz und gar Vereinzelter, der sein Leben nach eignen Anschauungen und Wünschen geführt hatte, ohne zu meinen, daß seine Anschauungen und Wünsche für irgend jemanden verbindlich sein müßten. Wie aber kam es, daß ihn in seiner Einsamkeit plötzlich die Gottsucher aufsuchten, Bröseke, der einfache Protestant, der vom Euangelion sprach, der guten Botschaft Gottes an alle, und der Neukatholik Gerberstedt, der sein Leben als Beispiel empfand und, ein umgekehrter Christopherus, der Welt seine Last zu tragen und zu ertragen aufgab? Was wollten sie von ihm? Was wollte das Schicksal von ihm, daß sie diese Männer vor seine Tür schickte?

      Er warf das Buch in die Ecke und trat hinaus. Der Himmel hatte sich aufgeklärt. Der Vollmond, schon ein wenig dem Abnehmen zugeneigt, stand über den drei Buchen am Hang und schien mit grellen Strahlen auf die geweißte, gerundete Mauer. Ein Käuzchen lockte, eine Eule strich, auf Mäusejagd, unsicher im Mondlicht taumelnd von Wipfel zu Wipfel. Das Wetter versprach schön zu werden. Denn es war schon ziemlich kalt, und der Nebel hielt auf dem Fluß, wagte sich nicht in den Wald hinein. Maria Andersson würde kommen. Morgen. Und wenn sie wirklich kam? Das war doch nichts anderes als ein teuflischer Betrug, ein irrsinniger Versuch, einer fremden Frau in Gerties Kleidern die Rolle der so schmerzlich Vermißten anzuvertrauen. Gertie haßte übrigens den Mond. Bei Vollmond war sie fast immer schlaflos, saß bei zugezogenen Vorhängen (schön waren sie übrigens, die hellblauen, schweren Vorhänge nach der Morgenseite, nach außen mit Seide in zartesten Morgenrotfarben gefüttert), saß in sich zusammengekauert im Bett, eine Pralinenschachtel neben sich, aus der sie gedankenlos aß, verschiedene Parfüms um sich versammelt, die sie zu einem Blumenstrauß, einem Geruchsbukett zu mischen suchte — ein beneidenswertes Luxusgeschöpf also, ein unnützes Menschenkind, nur zur Freude von Männern geschaffen, die es sich leisten konnten, sie zu kleiden, zu ernähren und in einen herrlich ausstaffierten Schmuckkasten von Haus zu setzen. Eine asoziale, hassenswerte Erscheinung also? Ach, hättet ihr sie gesehn, dachte Paul, in den Mondnächten, ausgeliefert den bösen Strahlen des verführerischen Gestirns, ganz erfüllt von dem kalten Schein einer unbekannten kalten Welt, wärmebedürftig, sich nach Sonne sehnend, ein lunarisches Geschöpf, ihr hättet ihr nicht ihr blumenhaftes Dasein geneidet, das so schnell verwelken mußte. Nur die Ausgelieferten, die Melancholischen haben diese Anziehungskraft, dachte er weiter. Sie haben die verstehende und verzeihende Weite, den Humor, der aus dem Gefühl der eignen Unzulänglichkeit kommt. Sie allein haben die schwebende Leichtigkeit, die das Leben erst atmenswert macht, sie allein die göttliche Unbekümmertheit, alle männlichen Werte auf den Kopf zu stellen und damit ihr mangelndes Gleichgewicht zu erweisen. Denn ein wahrer Wert, eine absolute Wahrheit balanciert auch noch auf dem Kopf. Sie braucht keine Verteidiger, die sie mit sturem Ernst beschirmen. Ach, wenn er jetzt, wie er es in Mondnächten früher oft getan, in ihr betäubend duftendes Zimmer hätte treten können, sie auf den Arm nehmen wie ein Kind und im Zimmer hin und her tragen und ihr erst verängstigtes, klagendes Geschwätz, dann, wenn sie getrösteter wurde, ihre gaminhaften Frechheiten, ihre zügellosen, sündhaften Wortspielereien anhören, bis er sie, wenn sie einschlief, vorsichtig wie ein kleines Tier im Bett ablegte und sorglich zudeckte oder sich neben sie legte und mit ihr spürte, wie der tückische Mond um die Hausecke wegging und endlich drüben hinter den Pappeln verschwand.

      Er blickte auf. Unbeweglich schien der Mond auf dem Fleck zu verharren, und seine kalten Strahlen erkälteten langsam sein Blut, bis zu Totenstarre. In diesem Augenblick wünschte er sich tatsächlich, ihr nachzusterben — eine lebensgefährliche Sentimentalität, wie er abwehrend dachte. „Wenn du stirbst“, hatte sie an ihrem letzten Abend auf dem letzten Berliner Urlaub gesagt, „wenn du wirklich stirbst ... ich lebe bestimmt weiter. Ich habe ja nichts anderes als das Leben. Das muß man doch festhalten. Bilde dir also nicht ein, daß ich in Trauer wie eine indische Witwe mich verscheitern lasse oder mein Leben allein verbringen werde. Nach einem bißchen Weinen bist du ausgelöscht. Merke dir das. Sieh also zu, wenn du mich behalten willst, daß du am Leben bleibst.“ Und nun wollte er nicht mehr leben, weil sie nicht lebte? Das war ein ganz verdammter Unsinn. Nein ... es war gut, daß das Wetter besser wurde und Maria Andersson kam. War das wirklich gut? Er wußte schon, indem er dies dachte, daß er in Maria nicht von Gertie wegwollte, nein, auf betrügerische Weise zu ihr hin. Nicht zum Leben wünschte er zurückzukehren, sondern sich wieder über die Tote zu beugen. Sie soll lieber nicht kommen, dachte er und wandte sich.

      Der Tag wurde heiß und heiter. Gegen Mittag kam Maria Andersson. Wolffenau haute gerade die letzte Nute in einen Balken und hatte ihre Schritte nicht gehört. „Also ... da bin ich“, sagte sie mit ihrer dunklen, verschleierten Stimme, die Gott sei Dank gar nicht an Gerties Vogelstimme erinnerte. Aber sie trug Gerties Gabardinekostüm und ihre hellblaue Bluse, die er ihr eines Tages bei Horn in der Tauentzienstraße gekauft hatte. Natürlich, es war die Bluse, die sie nie zu tragen geschworen hatte. Denn während des Anprobierens hatte Paul in einer „unverschämten Weise“ mit der sehr hübschen, schönbusigen Verkäuferin kokettiert, und Gertie, die ihre fast knabenhaften Brüste als ein Manko empfand, war sehr böse geworden. „Kauf dir bitte die Busionärinnen, wenn ich nicht dabei bin“, hatte sie gesagt. „Es ist taktlos, seine eigene Frau indirekt auf ihre Fehler aufmerksam zu machen.“ Und als sie dann auf den Kurfürstendamm kamen, hatte sie ihn in einen Schönheitssalon mit hineingezogen und mit Trompetenstimme eine Zweikilopackung „Megabusol“ verlangt, mit dem Zusatz: „Mein Mann liebt nämlich das Üppige.“ Das war so ihre Art, die kleinen Verstimmungen und Streitereien aufzuheben. Er sah die funkelnagelneue Bluse prüfend an. Ein sehr schönes Stück, eine feine Pariser Arbeit! Und Maria Andersson hatte, wie er feststellen mußte, kräftige, wohlgebildete Brüste.

      „Fein, daß Sie da sind“, sagte Paul nach einer etwas zu langen Pause. „Wir können gleich zu Mittag essen.“

      Maria Andersson hob eine ziemlich große Aluminium-Milchkanne. „Nachher vielleicht“, sagte sie, „erst müssen wir arbeiten. Ich komme nämlich wegen der Brombeeren!“

      „Das weiß ich“, antwortete Paul etwas verdrießlich, „aber eine höfliche Frau sagt so was ein bißchen indirekter.“

      Maria lachte: „Ich muß mich an gute Manieren erst wieder gewöhnen. Man kann nicht gerade behaupten, daß die Männer sehr dazu herausfordern.“

      Paul blinzelte sie spöttisch an. Dann ging er ins Haus und kam mit einem Stuhl zurück: „Bitte. Und nun warten Sie mal freundlichst, bis die Kartoffeln gar sind. Es gibt Pilze dazu.“

      „Ich werde Ihnen helfen“, sagte Maria, „zu Pilzen reicht mein Küchenverstand noch.“

      „Ein andermal“, sagte Paul, „heute sind Sie noch mein Gast.“

      Sie sah, erstaunt über die Art, wie er über sie verfügte, etwas unwillig zu ihm hinüber. Aber er war schon in der Hütte verschwunden. Sie zog eine winzige Tabakspfeife aus der Kostümjacke, stopfte sie aus einem Silberbüchschen, das vormals wohl eine Puderdose gewesen war, und setzte sie in Brand. Es war Gerties Tabakspfeife, die sie allerdings selten genug geraucht hatte.

      Paul sah ihr aus dem Fenster zu und fragte: „Rauchen Sie viel?“

      Sie blies den Rauch behaglich von sich. „Welcher Raucher weiß schon, wieviel er raucht. Sie müssen übrigens die Pfeife entschuldigen. Zigarettenpapier macht mir leicht Kopfweh.“ Genau wie Gertie. Übrigens sah sie, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, sehr melancholisch und hilflos aus, ja, als habe sie eben erst ein fürchterliches Erlebnis hinter sich. Ihre leichte, lässige Art zu sprechen, ihr etwas kokettes Wesen waren nur Maske.

      „Ich bekomme vielleicht heute nachmittag Besuch“, rief er, die Pilze in die Pfanne schneidend, „ich bringe Sie