„Dann muß ich aber sehr fleißig pflücken“, sagte sie.
Und er antwortete: „Das wird wohl nötig sein, liebes Kind.“
Merkwürdig und anziehend, diese Mischung aus dunkler Melancholie und zarter, sich selbst vergessender Heiterkeit.
Sie sah ihn etwas schief von unten her an. „Liebes Kind“, lächelte sie, „das hört man um so lieber, je älter man wird.“
„Welches hohe Alter haben Sie denn erreicht?“ fragte Paul spöttisch.
„Sechsunddreißig“, antwortete sie, ganz ohne Eitelkeit, „genauso alt wie Sie.“
Paul sah sie überrascht an. „Woher wissen Sie das?“
Sie lachte: „Sie sind ein Dummkopf. Taxiert und geraten. So ist das mit den meisten Scharfsinnigkeiten.“
Als sie nach einem schönen Gang wieder an die Hütte kamen, bestand Maria darauf, daß sie ihm beim Abwaschen behilflich sein dürfe. Sie machte die Abwäsche sehr schnell, gewandt und lautlos. Aber zum Abendessen wollte sie nicht bleiben, obwohl Paul ihr sagte, er würde sie nachher durch den Wald zur Station bringen und ganz bestimmt heil in den Zug setzen. Sie meinte aber, es sei genug und übergenug für ein erstes Mal Zusammensein, und wahrscheinlich überhaupt genug. Denn sie sei immer genauso wie heute und ganz und gar nicht interessant, eine Frau ohne Tiefen und Untiefen, die beim näheren Kennenlernen nur verliere.
Paul brachte sie zur Station. Sie gingen am Fluß entlang. Die Sonne war schon im Untergehn, und da es schnell kalt wurde, dampfte das wärmere Wasser. Bald kam ein starker Nebel und breitete sich über den Fluß. Man hörte die Ruderschläge von Fischerbooten. Oder es waren Boote von Grenzgängern, die durch den Nebel fuhren, um ins russische Gebiet hinüber zu gelangen, das etwa fünf Kilometer flußaufwärts von hier begann. Man hörte jedenfalls gedämpfte Rufe, wie sie Menschen törichterweise ausstoßen, die denken, daß sie sich im Flüstern weniger verraten als im lauten Sprechen. Aber der Nebel trug das Flüstern sehr deutlich an das Ufer heran. Paul fragte, wo Maria denn die Grenze überschritten habe. Sie log, sie habe das Kriegsende in Hamburg erwartet. Ob sie immer in Hamburg gelebt habe? Nein, früher habe sie in Berlin gelebt. Wo? In der Reichsstraße, nahe am Reichskanzlerplatz, aber 1943, im November, sei sie ausgebombt und weggegangen.
„Schwindeln Sie eigentlich immer?“ fragte Paul, und er wunderte sich, daß er darüber verstimmt war, „oder nur, wenn es Ihnen Spaß macht?“
Sie sah ihn überrascht an. Wieso schwindele sie? Das sei alles wahr oder doch so ziemlich alles.
„Sie sind doch bis zum Schluß in Berlin geblieben“, sagte Paul streng.
Sie wehrte sich. Wie er darauf komme? Sie müsse es doch wohl besser wissen. Und schließlich überraschend: „Ja ... ich bin erst vor kurzem herübergekommen. Und nun soll ich auch noch erzählen, warum ich gekommen bin? Aber ich habe keine Lust dazu. Ich will es nicht.“
Paul entschuldigte sich, er habe sie nur ein bißchen necken wollen. Aber er sehe es nun ein, man dürfe heutzutage keine Späße machen. Jedenfalls nicht, ehe man die verletzlichen Punkte des anderen kenne. Und es gebe wohl keinen Menschen in Deutschland, der nicht sehr zart und verletzlich sei.
Sie waren schon nahe an der Station und hörten den Zug heranrollen. Sie mußten laufen und kamen gerade noch durch die Sperre, als der Zug schon hielt. Wie immer hingen Reisende auf allen Puffern und Trittbrettern. Maria versuchte erst gar nicht, sich in eines der Abteile zu drängen. Sie stellte sich auf eine winzige freie Stelle des Trittbrettes, und schon fuhr der Zug an.
„Auf Wiedersehn also“, rief Paul und, indem er neben dem Zug herging: „Sie könnten eigentlich gleich morgen wiederkommen.“ Der Zug fuhr schon schneller, und sie begann ihm wegzugleiten. „Auf morgen“, rief er sehr laut, und sie antwortete ebenso: „Gut. Ich muß mir ja auch den Zucker holen.“
Wie immer im hungrigen Deutschland, wenn von etwas Nahrhaftem die Rede war, reckten die anderen Reisenden die Hälse. Einige lachten, und ein junger Mensch schrie im Vorüberfahren: „Das wird ein süßes Rendezvous.“
Am anderen Mittag wartete Paul bis zwei Uhr mit dem Essen. Aber sie kam nicht. Er aß verstimmt allein und war über seine Verstimmung ärgerlich. Wenn sie nicht kam, war es nur gut. Was hatte er mit ihr zu schaffen? Gewiß ... sie war eine hübsche und aparte Frau, und auf die Dauer konnte er nicht als Mönch leben. Er war es einfach nicht gewohnt. Das hieß aber doch nicht, daß er sich um die erste Frau bewarb, die ihm ein seltsamer Zufall über den Weg trieb. Außerdem stieß ihn die schmerzliche Maskerade, die sie — ohne es zu wissen — mit Gerties Kleidern trieb, eher ab, als sie ihn anzog.
Nein ... das war nicht richtig. Weil sie Gerties Kleider trug, hatte er sie überhaupt nur beachtet. Aber jetzt, da er sie ein wenig kennengelernt hatte und sie so anders war als Gertie, jetzt war sie ihm gleichgültig. Oder vielmehr, es ging etwas gefährlich Kaltes, etwas Erkältendes von ihr aus. Die Erinnerung an die Tote? Nein ... das Kalte saß in ihr, in ihrem Herzen. Ja ... so mußte es sein. Sie war erstorben, tot. Toter als Gertie. Begraben unter irgendeinem entsetzlichen Schock. Tausende solcher Toten liefen in Deutschland herum, Frauen, die ihre Kinder verloren hatten oder denen sie in den Armen gestorben waren auf irgendeiner der Fluchten, die nun schon zwei Jahre dauerten und kein Ende nehmen wollten. Männer, die, aus dem Kriege kommend, alles tot und vernichtet fanden, um das sie sich gemüht, für das sie gekämpft, das sie geliebt hatten. Junge Mädchen, die von der rüden Kraft der Eroberer überwältigt worden waren und diesen unerwarteten Zusammenstoß mit den männlichen Urtrieben nicht überwinden konnten, die jahrhundertelang geschlummert hatten und nun zum Entsetzen Europas entfesselt waren. Verwöhnte, die plötzlich dem nackten Elend ausgeliefert waren, zarteste Geschöpfe, aus einem blumenhaften Dasein in die Eiseskälte des erschöpfenden Existenzkampfes verpflanzt ... Wie viele waren den Herzenstod gestorben, den Nerventod, den Gefühlstod, und atmeten nur noch wider Willen, lebten mechanisch, weil das Uhrwerk noch nicht abgelaufen war. Sicher: Maria war eine von diesen lebendigen Toten, und er, der ja selbst noch nicht genau wußte, ob er sich auf die Seite des Lebens neigen sollte oder sich dem bequemeren Nachen anvertrauen, der ihn sicher und sanft in ein läßliches Sterben, in einen kaum spürbaren Tod hineinfahren würde, er, der noch immer nicht wußte, ob das Leben den ganzen Aufwand lohnte oder ob die jungen Menschen recht hatten, die allerecken riefen, es habe alles keinen Zweck mehr, — er sollte sich nun um ein abgestorbenes Wesen bemühen?
Er stand mit einem Ruck auf und ging an seine Arbeit. Er fügte den Balken mühsam und genau. Aber gerade als er ihn beinahe hineingefügt hatte, schien ihm diese scheinbar sinnvolle Arbeit noch sinnloser, als das Sinnlose zu versuchen. Er warf den Balken wütend auf die Erde und lief auf die Autobahnschneise zu.
Er fand sie nicht bei den Brombeeren. Er stand lange in der Sonne und aß eifrig von den Früchten, ohne sie zu schmecken. Sein ganzes Leben hier in der Jagdhütte erschien ihm plötzlich geschmacklos und abgeschmackt. Nein, sein ganzes Leben bisher und sein ganzes Leben, das noch kommen konnte. Noch einmal sechsundreißig Jahre leben? Vielleicht noch länger? Es gab genug alte Leute, die selbst bei diesen Zeitläuften nicht aus der Welt herausfinden konnten und achtzig und neunzig wurden. Noch einmal so lange? Und wofür? Cassembert, den er einmal in einem Anfall der Melancholie nach diesem „Wofür“ gefragt hatte, wofür man zum Beispiel Häuser baue, in denen die Menschen dann ein völlig gleichgültiges oder ein lebensfeindliches, ein lebensvernichtendes Leben führten (Anlaß zu dem Gespräch war die Villa für einen Dynamitfabrikanten gewesen) — Cassembert hatte geantwortet, daß das Leben kein Wofür kenne und somit der lebendige Mensch dieses gefährliche Wort bei Sterbensstrafe nicht in den Mund, ja nicht einmal in den Sinn nehmen dürfe. Denn im Weiterleben sei der Sinn des Lebens immer wieder offenbar.
Was für ein Sinn offenbarte sich ihm denn jetzt, hier an den Brombeeren, deren säuerlich-süßer Geschmack ihm angenehm auf der Zunge verging, in der Sonne, die ihm wärmend auf Gesicht und Hände schien, im Flug der verspäteten Schmetterlinge, die aus den letzten Brombeerblüten, den unnützen, die keine Frucht mehr bringen würden, ihren Honig sogen? Gar kein Sinn, aber ein süßes, angenehmes, einfach atmendes Leben. War