Nachdem das Bild verloschen war, starrte Marci noch eine ganze Weile ins Leere, während ihr Herz Aussetzer hatte, und sie einen Kloß im Hals spürte, der sie kaum atmen ließ. Easy, so hatte Will sie immer genannt, weil es ihr Lieblingswort gewesen war, wenn es schwierig wurde und sie damit Wills Sorgen meistens ins Gegenteil verkehrt hatte. Niemand sonst wusste davon, deshalb ging sie davon aus, dass die Nachricht authentisch war.
Als sie realisierte, wie sehr sie Will Unrecht getan hatte, und er in Wahrheit anstatt sie zu verlassen, einen unfreiwilligen Trip in die Hölle unternommen hatte, brach sie innerlich zusammen. Sie sank an Jacks breite Brust und begann hemmungslos zu weinen. Wie durch einen Nebel bemerkte sie seine starken Arme, die sich wie ein schützender Wall um sie legten und sie hielten, wie einen hilflosen Säugling. Von Ferne hörte sie seine tiefe, beruhigende Stimme und an ihrem Ohr schlug sein mechanisches Herz wie ein verlässliches Uhrwerk.
»Es tut mir so leid, aber wir können hier nicht bleiben«, murmelte er schließlich und signalisierte ihr damit, dass sie ihre Trauer auf später verschieben musste. »Pack bitte für dich und die Kinder ein paar warme Sachen ein, und dann geht’s los. Wir sind schon spät dran. Ich habe in der Villa zwar die Sicherheitscodes abgeschaltet und die Hausherrin in einen Dämmerschlaf versetzt, aber spätestens wenn sie erwacht und die Security alarmiert, sind wir hier nicht mehr sicher.«
Marci versuchte sich zu fassen, als Jack ihr aufhalf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Also dann bist du gar keine Maschine«, fragte sie mit erstickter Stimme und schaute ihn völlig verstört an.
»Doch«, bekannte er beinahe resigniert. »Ich bin genau das, wofür du mich auf den ersten Blick gehalten hast. Ein Kriegsroboter. Will war ein Hybrid.«
»Hybrid?«, murmelte Marci und warf Jack einen verständnislosen Blick zu.
»Soldaten halb Mensch, halb Maschine«, erklärte er nüchtern. »Der Regierung gehen die Maschinen aus, zumal die Preise für militärische Robots inzwischen in astronomische Höhen gestiegen sind. Deshalb sind die Strategen mithilfe von MacIntyres Labor dazu übergegangen, arbeitslose Männer und Frauen aus den Slums zu entführen und sie gegen ihren Willen zu Hybridsoldaten umzufunktionieren. Sie sind weitaus kostengünstiger in der Herstellung, dafür aber leider auch anfälliger für Verletzungen. Bei zwanzig Milliarden Menschen auf der Erde, von denen die meisten inzwischen so gut wie überflüssig sind, macht es allerdings durchaus Sinn, sie an der Front zu verheizen, um zu sehen, wie der Feind reagiert, bevor man die viel teureren Robots einsetzt. Wobei der menschliche Instinkt, um sein Überleben zu kämpfen, größer ist, als bei einem Roboter. Was für die kämpfenden Parteien durchaus von Vorteil sein kann.«
»Aber warum desertieren diese Hybridsoldaten dann nicht in Scharen«, wollte Marci nun wissen. »Ich meine, sie haben sich dieses Schicksal doch nicht ausgesucht.«
»Dort wo sie eingesetzt werden, kann man nicht einfach abhauen. Außerdem versucht man gleich zu Beginn ihrer Transformation ihre Erinnerungen zu löschen, doch nicht bei allen gelingt das. Will konnte sich nach einer Weile wieder an alles erinnern, was sein Leben einst bestimmt hat. Das hat es für ihn umso schmerzhafter gemacht.«
»Das ist ja furchtbar«, flüsterte Marci und stieß einen erstickten Laut aus. Vor lauter Entsetzen hielt sie sich die Hand vor den Mund.
»Warum weiß niemand davon?«, flüsterte sie mit Panik im Blick.
»Weil die Regierung und ihre Hintermänner, wie MacIntyre es strikt geheim halten«, antwortete Jack tonlos. »Sie manipulieren die Kriegsberichte aus den umkämpften Gebieten schon seit Jahren. Und täglich verschwinden mehr Menschen aus den Slums. Niemand kümmert sich darum, weil sich die Offiziellen für diese Leute nicht interessieren und wenn sich jemand auf die Suche macht, läuft er ins Leere.«
»Das habe ich selbst erlebt«, bestätigte Marci resigniert. »Mich haben alle für verrückt erklärte und gemeint, Will wäre mit einer anderen Frau durchgebrannt.« Sie schluchzte von neuem, weil sie sich Will gegenüber schuldig fühlte. Doch was hätte sie machen sollen?
»Und wo gehen wir nun hin?«, fragte sie vollkommen desillusioniert. »Wer wird uns helfen, wenn sich niemand für uns interessiert, wie du sagst.«
»Es gibt einen Ort, an dem ihr in Sicherheit seid und dort werde ich euch hinbringen. Vertrau mir«, riet er ihr, obwohl es nicht den Anschein machte, als ob sie seinem Rat folgen würde. »Mach dir keine Sorgen«, schob er mit einem möglichst einnehmenden Lächeln hinterher, »es ist ein guter, friedlicher Ort, auch wenn es dir auf den ersten Blick nicht so erscheinen mag.«
»So wie du sprichst, kommst du mir nicht vor wie eine Maschine, die sich nur nach ihrer Programmierung richtet«, entgegnete Marci und runzelte die Stirn. »Du siehst aus wie ein Mensch, der sich gerne um andere kümmert und du benimmst dich auch so.«
»Das ist ein wirklich schönes Kompliment.« Jack lächelte sie an und wurde gleich wieder ernst. »Zugleich ist es ein furchtbarer Fluch«, fügte er dunkel hinzu. »Wenn die Regierung erst erfährt, dass es Robots gibt, die zu eigenständigen Emotionen fähig sind und wir uns zu einer Art Widerstand gegen die Regierenden zusammenrotten, wird es keinen Krieg mehr gegen die Chinesen geben. Dann gibt es einen Krieg gegen die Maschinen. Und dabei werden wir im Moment noch den Kürzeren ziehen. Falls du also die ganze Geschichte wissen willst, solltest du dich beeilen, damit wir verschwunden sind, bevor die Bluthunde der Regierung hier auftauchen und noch genug von mir übrig bleibt, um dir alles berichten zu können.«
Jack nahm das Angebot, Wills Kleider anzuziehen, gerne an. Jedoch beschlich ihn ein seltsames Gefühl, als er in die Stiefel des Mannes stieg, der unter seinen Händen gestorben war und das hier alles erst möglich gemacht hatte.
Marci schaute ihn mit ihren wundervollen braunen Augen seltsam entrückt an, als er vor ihr stand und sie zum Abmarsch mahnte. Er wusste, was in ihrem Kopf vorging. Nicht weil er von Natur aus eine gute Menschenkenntnis besaß, die musste er sich erst noch erarbeiten, sondern weil seine Schöpferin ein Programm in seine neuronalen Vernetzungen implementiert hatte, dass die psychischen Befindlichkeiten eines Menschen anhand von Augenkontakt, Stimmlage, Wärmeabstrahlung, Herzschlag und Atemfrequenz erfassen konnte.
Er konnte Marcis Schmerz, den sie wegen Wills Tod empfand, berechnen. Und was dabei herauskam, war so entsetzlich, dass er sich kaum vorzustellen vermochte, wie ein Mensch so viel Leid überhaupt aushalten konnte. Aber genauso hatte er erfahren, wie sehr Will seine Familie liebte und wie grausam es für ihn gewesen sein musste, in diesem sinnlosen Krieg zu sterben, ohne sie jemals wiedergesehen zu haben.
»Liegt dieser Ort, von dem du gesprochen hast, irgendwo in der Wildnis?«, fragte Marci mit zittriger Stimme. Sie hatte für die Kinder Jacken und Anoraks eingepackt und eine Tasche, in der alles enthalten war, was man für medizinische Notfälle benötigte. Dazu die letzten Lebensmittelrationen. Pulver aus Bohnenschoten, das man in sich selbst erwärmenden Bechern mit Wasser zu einer nicht gerade schmackhaften Suppe verrühren konnte.
»Du brauchst nichts Essbares mitzunehmen«, versuchte er sie zu beruhigen. »Dort, wo wir euch hinbringen, gibt es genug Nahrung. Dir und den Kindern wird es an nichts fehlen.«
»Wir?« Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Du arbeitest nicht alleine?«
»Nein«, sagte er nur und schob sie entschlossen zur Tür hinaus. »Wir sind viele, aber noch nicht genug, um grundlegend etwas verändern zu können.«
Während Marci noch tausend Fragen hatte, klopfte sie an die Tür ihrer