Zuletzt sei gesagt, dass ich auch nicht Kaiserslautern-Fan wurde, weil es „in“ gewesen wäre („in“ waren Bayern, Hamburg und Mönchengladbach) oder weil die Mannschaft Titel in Serie gewann – genau genommen gewann sie in den frühesten Fragmenten meiner Erinnerung überhaupt keine Titel, spielte aber relativ erfolgreich.
Was ich als Kleinkind fußballerisch dachte und fühlte, weiß ich nicht mehr genau. Angeblich soll ich bereits sehr früh die Worte „Foul“ und „Elfmeter“ gekonnt haben und auf das von mir selbst gesprochene Kommando „Auf die Betze, fertig, plus“ losgerannt sein, aber was Leistungssport betrifft, so stand ich in dieser infantilen Phase bestenfalls auf Formel 1 im Allgemeinen und Niki Lauda im Besonderen. (Formel 1 interessiert mich heute übrigens gar nicht mehr.) Auch den Kindergarten bringe ich heute nicht mehr mit Fußball in Verbindung, obwohl ich andererseits nicht ausschließen kann, damals bereits eine erste zarte Bande zu Kaiserslautern geknüpft zu haben.
Spekulationen tragen aber nicht zur Wahrheitsfindung bei, und da die Kindergartenphase in meinem Leben eines der dunkleren Kapitel darstellt, möchte ich darüber kein Wort mehr verlieren. Höchstens noch, dass wir im Theater „Schneeweißchen und Rosenrot“ sahen und dass wir zur Hochzeit unserer Kindergartenleiterin mit dem Bus fuhren und dort jeder eine Tafel Alpia-Schokolade geschenkt bekam. Zum Glück konnte ich Vollmilchschokolade essen, denn ich war ein äußerst sensibler Esser, schaffte erst mit zwanzig meine erste Banane und habe bis heute keine Gummibärchen, Bonbons oder Kaugummis angerührt. Außerdem schwänzte ich in jedem Jahr aus Ekel vor Kriegsbemalung und panischer Angst vor Platzpatronengeballer die Kindergartenfastnacht, wobei doch Relikte dieser Verhaltensweisen auch in der Fankultur anzutreffen sind. Vielleicht stören sie mich in Fankreisen deshalb weniger, weil sie hier keine pseudolustige Farce sind, sondern den Ernst der Angelegenheit – und Fußball ist eine ernste Angelegenheit – aufs Deutlichste unterstreichen.
Definitiv erinnern kann ich mich allerdings daran, spätestens im ersten Schuljahr ein glühender FCK-Fan gewesen zu sein. Alle anderen waren Mädchen oder für Bayern, Hamburg oder Gladbach. Oder sie waren tatsächlich Mädchen, die auf anbiedernde Weise für Bayern, Hamburg oder Gladbach waren, aber ich rannte in meinem roten T-Shirt mit dem wunderbar vollkommenen Emblem, das aus der kreisförmigen Anordnung der breitflächigen, weißen Zeichen 1, F, C und K bestand, im Sportunterricht herum und war stolz darauf.
Am Ende dieser Saison 1980/81 erreichte der 1. FCK das DFB-Pokalfinale, und dies ist nach dem Europameistertitel Deutschlands ein Jahr zuvor eine der ersten bewussten Fußballerinnerungen, die ich in meinem „unsinnigen“ Fundus abgespeichert habe. Bereits Tage vor dem Spiel war mein – durch wen auch immer – geschürtes Fieber nicht mehr zu bändigen. Das Warten überbrückte ich damit, dass ich auf einer Fläche von etwa vier Quadratmetern, das war der Teppichboden zwischen Wohnzimmertür und Balkontür, mit einem blauen Luftballon am Fuß die Finalpartie Eintracht Frankfurt gegen den 1. FC Kaiserslautern simulierte. Dabei schoss ich Tore für beide Parteien, kommentierte dies, wie ich es aus Fernsehen und Radio aufgeschnappt hatte, mit den Nachnamen der Spieler, wobei mir Hölzenbein, Cha Bum und Pezzey genau so geläufig waren wie Hellström, Bongartz oder Funkel, und achtete – als wäre es Zufall – stets darauf, dass meine Mannschaft am Ende ein Tor mehr auf ihrem Konto hatte. Warum war mir als Siebenjähriger ein Fußballspiel so wichtig? Warum „verschwendete“ ich bereits als ABC-Schütze so unendlich viel Lebenszeit und Energie mit dem Herunterbeten von Mannschaftsaufstellungen und der Konzentration auf Ereignisse, in denen nicht ich, sondern eine Schar hochbezahlter austrainierter Erwachsener konzentriert sein sollte? Waren sie meine eigenen Schachfiguren, die ich in jeder Sekunde der Partie im Auge behalten musste, um sie zum Sieg zu führen? Meine Schachkünste müssen zur damaligen Zeit noch sehr ausbaufähig gewesen sein, denn Eintracht Frankfurt gewann das Pokalfinale in einer einseitigen Begegnung mit 3:1. Besonders kurios daran war die Tatsache, dass ich nur die ersten 15 Minuten des Spiels verfolgen konnte, bis meine Mutter mir sagte, es sei nun Zeit für den Kindergottesdienst, und ich ohne ernstzunehmendes Aufbegehren das Schlachtfeld verließ, um zum Tisch des Herrn zu ziehen.
Grundsätzlich ging ich gerne in den Kindergottesdienst unserer kleinen evangelischen Gemeinde in einem katholisch dominierten Dorf an der oberen Nahe, wo man uns in vertrauter Runde Geschichten über Jesus erzählte, aus denen man lernen konnte, dass nicht immer das, was die Mehrheit für richtig hielt, auch das Richtige sein musste. Aber konnte man nicht einmal wegen eines Endspieles – und der FCK war beileibe kein Verein, der alle Tage in einem Endspiel stand, was ich freilich als Siebenjähriger noch nicht in seiner Tragweite erfasst haben konnte – auf solche Jesusgeschichten verzichten? Oder war gerade hier der pädagogisch neuralgische Punkt, an dem man seinem Sprössling zeigen musste, dass es Wichtigeres gab als Fernsehfußball? Ewige Wahrheiten gegen schnelllebiges Tagesgeschäft? Interessant allemal ist aus heutiger Sicht (ich bin mittlerweile selbst Vater und kenne viele Eltern, die bereits Zweijährige permanent fragen, ob sie nun diese oder jene Lebensannehmlichkeit lieber hätten) die Tatsache, dass es überhaupt nicht zur Debatte stand, mich zu fragen, ob ich nun lieber in den Kindergottesdienst gehen oder doch lieber das unendlich wichtige, weltbewegende Pokalfinale 1981 zwischen Eintracht Frankfurt und dem 1. FC Kaiserslautern weiterverfolgen wollte. Meine Mutter, die selbst den Kindergottesdienst leitete, kann ich nicht mehr fragen, warum sie damals kein Auge zudrückte, denn für sie gibt es natürlich überhaupt keinen Grund, sich an den Tag des Pokalfinales, den 2. Mai 1981, noch erinnern zu können. Vielleicht hat sie selbst damals nur gesehen, dass Vater und Sohn gelangweilt auf der Couch sitzend die Wartezeit bis zum Kindergottesdienstbeginn überbrückten. Kann sein, dass da noch irgendeine Sportübertragung lief …
I.
Fanatikergene?
Dass irgendetwas mit mir nicht stimmte, dass ich zur Heldenverehrung neigte, hätte jeder psychologisch gewiefte Beobachter bereits in den frühen achtziger Jahren erkennen müssen. Meine Leidenschaften waren damals zweigeteilt: Im Winter favorisierte ich den nordischen Skisport, dabei insbesondere die finnischen Athleten und allen voran den Skispringer Matti Nykänen (einen labilen Alkoholiker, der heute mehrfach geschieden und vorbestraft ist, damals aber mit einer Leichtigkeit ins Tal segelte, die nur in seinem blassen Gesicht und dem unendlich langen Kontrollieren des richtigen Sitzes von Skibrille und Bindung ihre Ursache haben konnte) und den Rest des Jahres natürlich meine Roten Teufel vom Betzenberg.
Gewiss kann man auch eine Sache oder eine Person favorisieren, ohne ihr gleich mit Haut und Haaren zu verfallen. So soll es zum Beispiel Menschen geben, die einen bestimmten Künstler gerne sehen oder eine bestimmte Art von Romanen mögen – würden diese Menschen aber morgens mit hämmerndem Herzen den Kulturteil ihrer Tageszeitung aufschlagen, um sich in panischer Selbstvergessenheit den neuesten Verrissen der Werke ihres Lieblingsautors auszusetzen? Und würden diese Menschen erleichtert aufatmen, wenn das Urteil milde ausgefallen war? Ich für meinen Teil schlug immer, ohne Ausnahme immer, zuerst den Sportteil auf, und es erfüllte mich bereits