»Wenn das so ist – warum gibst du mir nicht das Ticket, und ich gönne mir einen kleinen Ausflug in die Everglades. Ich könnte auch mal wieder Urlaub vertragen.« Mit hypnotisierendem Blick starrte sie auf Madocs Brusttasche.
Er seufzte theatralisch, holte das Ticket heraus und reichte es ihr. »Der Flug geht heute Punkt achtzehn Uhr. Du solltest dich also beeilen, wenn du noch packen möchtest.«
»Dazu brauche ich keine fünf Minuten. Ich reise immer mit leichtem Gepäck. Danke, mein Lieber! Dafür hast du was gut bei mir.« Kaja verabschiedete sich mit einem Kuss auf Madocs Wange und Rick kam in den Genuss einer Umarmung. Dann schlug sie den Weg in Richtung Waffenkammer ein.
Die beiden Männer sahen ihr nach.
»Okay«, sagte Madoc, »ich möchte die Chefin nicht länger warten lassen.« Damit wollte er gehen, aber Rick hielt ihn zurück.
»Ich habe gehört, dass ein altes Übel bei dir in Neuengland wieder auf dem Vormarsch ist.«
Madoc seufzte erneut. Die Leichtigkeit des Gesprächs war verschwunden. »Dann weißt du mehr als ich«, erwiderte er ruhig. »Du sprichst von den Institorianern?«
Rick schüttelte sich und nickte. »Ich wollte nur sagen – falls du meine Hilfe brauchst, melde dich! Ich habe noch eine Rechnung mit diesen skrupellosen Mistkerlen offen, die ich gerne begleichen würde.«
Im grellen Licht der Flurlampen war es schwierig, Gefühle zu verbergen. Madoc sah, wie sich die Reißzähne im Oberkiefer seines Freundes abzeichneten, und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. Bärenwandler waren empfindlich und emotional, konnten sich aber durch eine freundliche Berührung in Sekundenschnelle wieder in die geduldigen Wesen zurückverwandeln, die sie eigentlich waren.
»Versprich mir eins«, setzte Rick nach. »Sei vorsichtig! Ich habe Magengrummeln, und das ist kein gutes Zeichen.«
»Ich weiß, alter Freund.« Madoc grinste. »Die Welt war immer schon verrückt. Und wer, wenn nicht wir Shifter Cops, sollte sie retten?«
KAPITEL 1
Der Wagen
Julie nahm kurz die Hände vom Lenkrad und lockerte sie. Boston lag seit zehn Minuten hinter ihr und der Verkehr auf der Interstate 95 in Richtung Portland hielt sich ausnahmsweise einmal in Grenzen. Was ihr zu schaffen machte, war der Regen. Er begleitete sie seit ihrer Abreise aus New York und schien einfach nicht aufhören zu wollen. Je weiter sie in Richtung Yarnville fuhr, desto finsterer wurde der Himmel. Nun zuckten sogar schwefelgelbe Blitze durch das stumpfe Grau.
Julie hasste Gewitter – beinahe genauso sehr wie die Dunkelheit. Komm schon, du bist eine erwachsene Frau, sagte sie sich. Und du kannst ein Naturphänomen in so klischeehafte Worte fassen, wie du willst, aber du kannst es nicht fortwünschen.
Unwillkürlich verkrampften sich ihre Hände erneut. Immerhin hatte sie »wünschen« gedacht, nicht »zaubern«. »Zaubern« war eines der Worte, die sie ebenfalls nicht besonders leiden konnte. Sie schaltete die Scheibenwischer eine Stufe höher und bedauerte, nicht auf den Rat ihres Mechanikers gehört zu haben. Neue Wischerblätter hatte sie als unnötige Ausgabe abgetan. Jetzt zerrte das monotone Quietschen an ihren Nerven. Um es zu übertönen, stellte sie das Radio an. Glenn Millers »Chattanooga Choo Choo« verbannte das Geräusch der Scheibenwischer in den Hintergrund.
Noch fünfundsechzig Meilen bis Portland. Yarnville lag ungefähr auf halber Strecke zwischen Salem und der größten Stadt Maines. Julie hatte also noch einen Aufschub von rund dreißig Meilen, bis sie ihre Hoffnungen auf ein vernunftbetontes Leben vollkommen begraben konnte.
Eine gute Stunde später seufzte sie zum gefühlt tausendsten Mal. Die Aussicht auf ein Leben in dem Kaff, in dem sie geboren und aufgewachsen war, weckte das Monster in ihr, und es wollte all die Dinge tun, die Julie normalerweise nicht tat. Sie war eigentlich ein selbstbeherrschter, klar denkender Mensch – außer wenn es um Gewitter, die Dunkelheit oder ihre Kindheit ging.
Ihr Psychologiestudium hatte sie mit Auszeichnung abgeschlossen und danach zwei Jahre lang im Bridgewater State Hospital gearbeitet, bevor einer der besten forensischen Psychologen des Landes sie nach New York geholt hatte. Nicht einmal ein halbes Jahr hatte das Intermezzo gedauert. Viereinhalb Monate, in denen sie mehr gelernt hatte als in der gesamten Zeit am Bridgewater, zumindest bis zur großen Katastrophe.
Sie biss sich auf die Unterlippe und verdrängte den Gedanken an ihre Fehleinschätzung. Das war jetzt nicht wichtig. Ihre einzige noch lebende Verwandte lag im Sterben, nur das zählte. Nachdem Julie von Tante Lauries Krankheit erfahren hatte, hatte sie ihren Job gekündigt, ihre wenigen Habseligkeiten in Kartons gepackt und sich von David getrennt. Für all das hatte sie nicht mehr als zwei Wochen gebraucht.
Ihr Mund verzog sich zu einem schwermütigen Lächeln. Was sagte diese Flucht wohl über ihr bisheriges Leben aus? Sie wurde bald dreißig und hatte innerhalb von vierzehn Tagen alles grundlegend geändert. Ihre Trennung von David war reibungslos verlaufen – zu reibungslos, sogar für ihren Geschmack. Doch seine Erleichterung darüber, dass sie endlich den finalen Schritt getan hatte, hatte ihrem Selbstbewusstsein trotz allem einen Hieb versetzt.
Die Musik im Radio wurde abgelöst von der Stimme des Moderators, der alle Hörer dazu aufforderte, es sich vor dem Kamin bequem zu machen und das nahende Unwetter mit noch mehr genialer Swing-Musik zu übertönen.
Schön wär’s, dachte Julie und versuchte, durch die glitzernden Regentropfen auf der Frontscheibe die verbliebenen Meilen bis zu ihrem Ziel zu erkennen.
Salem mit seiner dunklen Vergangenheit lag bereits hinter ihr. Früher, als ihre Großmutter noch gelebt hatte, war sie oft dort gewesen, vor allem im Hexenmuseum. Ihre kleine Hand in die weichen, von Altersflecken übersäten Finger ihrer Großmutter geschmiegt, hatte sie gebannt zugehört, wenn die alte Frau ihre Schauergeschichten erzählt hatte. Schlimmer als jedes gruselige Detail war für Julie die Vorstellung gewesen, eines Tages in die Fußstapfen jener Frauen und Männer treten zu müssen, die damals verbrannt worden waren. Einzig Tante Lauries Entschlossenheit war es zu verdanken gewesen, dass es ihr möglich gewesen war, Yarnville den Rücken zuwenden und sich ein eigenes Leben aufzubauen.
Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der Krebs, den man bei Laurie diagnostiziert hatte, Julie eine Möglichkeit zum Neuanfang bot. Laurie würde dieser Gedanke gefallen. Sie war immer der Ansicht gewesen, dass der Kreis die Form war, die ein Menschenleben bestimmte, und ihr nahender Tod gab ihrer geliebten Nichte nun die Gelegenheit, ihren Lebenskreis zu schließen.
Julie schnitt eine Grimasse. Einerseits war sie dankbar dafür, New York und alles, was sie damit verband, hinter sich lassen zu können. Aber andererseits fühlte sie sich noch zu jung, um in einem Kaff wie Yarnville den Rest ihres Lebens zu verbringen. Nun, sie würde erst einmal sehen, wie es ihrer Tante ging, und den Laden so lange weiterführen, wie es sein musste. Wie üblich war Laurie wenig auskunftsfreudig gewesen, was ihren Gesundheitszustand betraf, und Julie ahnte mehr, als dass sie es wusste, wie schlimm es tatsächlich um sie stand.
Ich hätte Alastair anrufen sollen, überlegte sie, während sie den Blinker setzte und von der Interstate abbog.
Er war Lauries bester Freund und, wie Julie vermutete, auch ihr zeitweiliger Liebhaber gewesen. Vielleicht hätte er ihr verraten, wie es Laurie wirklich ging und was die Ärzte meinten. Ihre Tante hatte ihr nicht einmal sagen wollen, welcher Therapie sie sich unterzog.
Ein greller Lichtblitz in unmittelbarer Nähe, gefolgt von einem Donnern, ließ Julie zusammenzucken. Ihr Kopf stieß fast gegen das Wagendach, als sie das Auto durch ein besonders tiefes Schlagloch steuerte, das sie übersehen hatte. Die Stoßdämpfer hätten ebenfalls schon lange ausgetauscht werden müssen, aber der alte Wagen kämpfte sich tapfer über die unebene Fahrbahn.
»Braves Auto«, murmelte Julie.
Es war natürlich Unsinn, aber sie hatte das Gefühl, dass die Klapperkiste nach der Ermutigung ruhiger lief. Vielleicht hatte sie ihre