»Miss Mireau?«, fragte Chief Parsons noch einmal.
»Ja«, antwortete Julie heiser. Sie räusperte sich und gab sich nicht einmal Mühe, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, als sie fragte: »Alastair … Er ist tot, nicht wahr?« In diesem Moment war ihr alles andere egal.
»Es tut mir sehr leid«, sagte Chief Parsons, »aber wie es aussieht, ist Mr Burnett tatsächlich heute Nacht zu Tode gekommen.«
Julie hörte, wie jemand nach ihm verlangte.
»Moment!«, antwortete er. »Ich bin hier noch nicht fertig.«
»Wer tut so etwas?«, fragte Julie leise.
»Ich weiß es nicht«, gab Chief Parsons zu.
Julie wunderte sich über seine Offenheit. Es musste nicht leicht für ihn sein, mit all diesen Verbrechen konfrontiert zu werden, die es so in ihrem Städtchen zuvor nicht gegeben hatte. Das beschauliche Yarnville gehörte der Vergangenheit an.
»Kann ich irgendwie helfen, Chief?«, bot Julie an. Natürlich beschränkten sich ihre Erfahrungen auf die Behandlung gefasster Täter und sie hatte keinerlei Erfahrung im Profiling, aber sie wollte nicht tatenlos herumsitzen und abwarten, bis Alastairs Mörder gefasst wurde.
»Nein! Und denken Sie nicht einmal im Traum daran, etwas auf eigene Faust zu unternehmen, Miss Mireau!«, sagte Chief Parsons in einem warnenden Tonfall. »Sie sind in keiner Weise für die Polizeiarbeit qualifiziert und ich verbitte mir jegliche Einmischung in meine Ermittlungen! Tun Sie einfach das, was Sie am besten können.« Damit meinte er wohl: »Verkaufen Sie albernes Zeug an Touristen und nutzen Sie deren Gutgläubigkeit aus!«
Julie schnaufte wütend. Sie wollte gerade etwas erwidern, als sie ein Tuten hörte. Der Blödmann hatte einfach aufgelegt! So eine Frechheit!
Es war Zeit, dass sich etwas änderte. Entschlossen reckte Julie das Kinn vor, obwohl niemand sie sehen konnte. Ja, sie würde in Yarnville bleiben. Sie ließ sich weder von einem kranken Idioten vertreiben, der Voodoopuppen auf dem Friedhof vergrub, noch von einem zündelnden Mörder. Wie hoch war eigentlich die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei um ein und dieselbe Person handelte? Ziemlich hoch, schätzte Julie, während sie ins Bad ging.
Etwa eine halbe Stunde später griff sie sich ihre Tasche, streifte sich ihren geliebten grünen Cardigan über und schlüpfte in ihre Sneakers. Unter der Dusche hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde herausfinden, wer Alastair und die beiden Frauen umgebracht hatte. Und wenn sie dazu »Hexenkräfte« benutzen musste, gut – dann war das eben so.
Schließlich war es unwichtig, ob sie davon überzeugt war, Magie wirken zu können. Der Mörder glaubte offenbar an die Macht der Hexerei, und das würde sie sich zunutze machen. Immerhin war sie die Letzte der Mireau-Hexen, und das Itchy Witchy war der perfekte Ort, um der okkulten Szene von Yarnville und Umgebung einmal genauer auf den Zahn zu fühlen.
Julie lächelte grimmig. Ihre Entscheidung fühlte sich nicht nur gut an, sondern sogar verdammt gut. Selbst ihr innerer Zensor, der sich sonst bei Schimpfworten stets mahnend meldete, schwieg nun und schien ihre Entschlossenheit gutzuheißen.
Ich bin eine Hexe, dachte sie probeweise und horchte in sich hinein. Es fühlte sich an, wie nach jahrelanger Abwesenheit nach Hause zu kommen. Einzig der Gedanke, dass Alastair erst hatte sterben müssen, damit sie ihre Herkunft akzeptierte, zerriss ihr fast das Herz.
Jetzt musste sie nur noch ihre Kräfte entdecken und lernen, mit ihnen umzugehen. Aber wer konnte ihr dabei helfen? Alastair, Margaret und Jolene waren tot und Cassandra schied als Lehrmeisterin aus. Sie war selbst noch auf der Suche. Ob Julie Myrtle oder Red um Hilfe bitten sollte? Um ehrlich zu sein, konnte sie sich Red als geduldigen Lehrer nicht vorstellen, und Myrtle kam nach ihrem letzten Auftritt im Itchy Witchy auch nicht in Frage. Nein, Julie musste es ohne sie schaffen. Sie würde einfach die Tarotsitzungen mit den Ratsuchenden nutzen, um behutsam auszuprobieren, wozu sie in der Lage war.
Dennoch wünschte sie sich, die Zeit zurückdrehen zu können, vor allem wenn sie an ihr letztes Gespräch mit Alastair dachte. Er fehlte ihr, und das nicht nur, weil sie nun völlig auf sich gestellt war. Sie hatte es nicht einmal mehr geschafft, ihm von den Voodoopuppen auf dem Grab ihrer Tante zu erzählen. Irgendwie konnte sie auch noch gar nicht so richtig glauben, dass er nicht mehr da war. Lauries Sterben hatte sie miterlebt, sie hatte gesehen, wie sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Alastairs Leichnam hingegen konnte sie sich nicht einmal annähernd vorstellen. Vielleicht würde sie es verstehen, wenn sie auf der Beerdigung sah, wie man seinen Sarg in der Erde versenkte. Wer würde sich eigentlich darum kümmern? Hatte Alastair noch Verwandte? Sie musste wohl mal mit Myrtle und Red darüber sprechen.
Mit vielen Fragen und ihren neuen Vorsätzen im Kopf fuhr Julie zum Itchy Witchy. Sie hoffte, dass die Arbeit sie etwas ablenken würde, und so war es auch. Kurz vor Feierabend kam Red herein. Wie Julie befürchtet hatte, wurde er von Mr Blair begleitet.
Fehlt nur noch der Chief, dachte sie stirnrunzelnd und wunderte sich erneut darüber, dass er überhaupt mit Mr Blair zusammenarbeitete.
Chief Parsons erschien ihr nicht wie ein Mann, der sich einem anderen leicht unterordnete, und schon gar nicht einem, der sich als »Shifter Cop« bezeichnete.
Während Red direkt auf sie zukam, schaute Mr Blair sich um. Mittlerweile waren alle Kunden gegangen. Also drehte Mr Blair das »Geöffnet«-Schild an der Tür um, sodass es »Geschlossen« anzeigte. Empört schnappte Julie nach Luft. Was bildete der Kerl sich ein? Aber sie kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen, denn Red nahm ihre Hand.
»Es tut mir so leid, was mit Alastair passiert ist. Wenn du irgendetwas brauchst – ich bin für dich da«, bot er an.
Verwirrt zog Julie ihre Hand zurück.
Nun trat auch Mr Blair zu ihr an den Tresen. »Mein Beileid zu Ihrem Verlust«, sagte er. »Ich habe gehört, dass Sie und Mr Burnett einander sehr nahestanden.«
»Danke« war alles, was Julie herausbrachte.
Seine unerwartete Anteilnahme rührte sie. Vielleicht war er ja doch kein so schlechter Kerl. Warum nur war sie bei jeder Begegnung mit ihm so hin- und hergerissen? Seine Arroganz stieß sie oft ab, aber irgendwie fühlte sie sich auch zu ihm hingezogen. Wenn sie ehrlich war, sehnte sie sich danach, mit ihm zu sprechen, ihm alles anzuvertrauen. Und besonders seit sie wusste, dass er auch Teil ihrer »anderen« Welt war, wollte sie ihm alle möglichen und unmöglichen Fragen stellen.
Ihr Herz pochte unruhig, als sie an ihre Träume dachte. In jeder Mordnacht hatte sie von den lebendig gewordenen Karten und von Feuer geträumt. Sowohl Mr Sargent als auch Mrs Saintclair hielten sie für eine schwarze Hexe und hatten sie auf die Träume angesprochen. Ihr wurde heiß. Was wussten die beiden über sie, das ihr selbst nicht klar war? Schließlich kannten sie sich deutlich besser mit Hexerei im Allgemeinen und der Familiengeschichte der Mireaus im Besonderen aus als sie.
Niemals zuvor hatte sie eine solche Angst verspürt wie in den letzten Tagen, als sie erkannt hatte, dass auch sie eine dunkle Seite hatte. In ihr wartete etwas darauf, sich zu entfalten, sie fühlte es beinahe wie ein lebendiges Wesen, das wuchs. Mrs Saintclair hatte es »Macht« genannt, aber Mr Sargent hielt es für eine dunkle Bestie, die auf ihre Befreiung lauerte. Zumindest hatte es so geklungen, als er von ihrer Verwandlung in eine schwarze Hexe gesprochen hatte. Oder hatte sie sich das nur eingebildet?
So oder so, es gab nichts zu beschönigen. Julie wusste nicht mehr weiter und brauchte Hilfe. Und es war tausendmal besser, sie von Mr Blair anzunehmen, der immerhin ein Cop war, als von einem Mann, der sich für einen Hexenjäger hielt.
»Möchten Sie mir etwas sagen, Miss Mireau?« Mr Blairs tiefe Stimme riss Julie aus ihren Überlegungen.
»Ich bin mir nicht sicher«, begann sie und senkte den Blick, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen.
Noch vor wenigen Tagen hatte sie die Existenz des Übernatürlichen geleugnet, sich sogar darüber lustig gemacht. Es war schwer, nun