Lost Treasure. Sandra Pollmeier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Pollmeier
Издательство: Bookwire
Серия: Treasure Hunt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783947634965
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Fremder, der genauso aussah wie Ben. Dieselben dunkelblauen Augen, die wilden braunen Haare, die unwiderstehlichen Grübchen, das schiefe, fast spöttische Lächeln. Aber dieser Mann hier war nicht Ben. Er trug einen langen, schwarzen Gehrock über einem weiten Rüschenhemd und engen Kniebundhosen. Seine Haare waren länger als die von Ben und im Nacken zu einem Zopf geflochten. Auf dem Kopf trug er einen Dreispitz und im Gesicht einen feinen, kurz geschnittenen Kinnbart. Was mich endgültig davon überzeugte, dass dies nicht mein Bruder sein konnte, war die tiefe Narbe, die sich quer über seine linke Wange bis zum Hals hinzog. Der Fremde lächelte, doch er sprach kein Wort. Bewegungslos stand ich da und starrte ihn an – unfähig etwas zu sagen oder mich zu bewegen. Der Fremde zog langsam seinen Hut vom Kopf, im selben Moment lichtete sich der Nebel. Erst jetzt erkannte ich den dichten, grünen Urwald um uns herum. Merkwürdig. Noch vor wenigen Sekunden hatte ich geglaubt, dass wir uns auf einer Ebene befanden. Aus den Wipfeln der riesigen Bäume tropfte Regen auf uns herunter, statt der Kälte breitete sich mit einem Mal eine stickige Schwüle aus. „Was … warum…?“, stotterte ich ungläubig, doch der Fremde, der gerade eben dem frühen achtzehnten Jahrhundert entstiegen zu sein schien, schüttelte den Kopf und legte mir den rechten Zeigefinger auf die Lippen, bevor ich weiterreden konnte. „Du musst dich in Acht nehmen!“, flüsterte er mit warnendem Unterton und stark französischem Akzent. Dann lächelte er wieder und ging langsam um mich herum, als wolle er mein Erscheinungsbild begutachten. Jetzt war er nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt und ich konnte seinen warmen Atem in meinem Nacken spüren.

      „Wovor?“, fragte ich leise und schloss die Augen, weil mich diese seine Nähe zutiefst verwirrte. Einen Moment lang bekam ich keine Antwort. Stattdessen spürte ich die kühlen Lederhandschuhe, die mir eine lose Haarsträhne aus dem Nacken strichen. Ich wollte mich dagegen wehren, doch ich konnte mich nicht rühren.

      „Vor den Vögeln“, flüsterte er mir ins Ohr.

      „Was ist mit den Vögeln?“, fragte ich verwirrt und drehte mich in seine Richtung.

      Seine tiefblauen, dunklen Augen sahen mich abschätzend an. „Du wirst es verstehen, wenn du so weit bist“, antwortete er kryptisch und zeichnete mit seinem Finger die Konturen meines Gesichts nach. Dann strichen die kühlen Handschuhe sanft über mein Haar. Und wieder konnte ich mich nicht wehren gegen dieses ohnmächtige Gefühl, dass ich Ben mit Haut und Haaren verfallen war. Meinem Bruder! Aber das hier war nicht Ben … oder etwa doch? Jetzt neigte er sein Gesicht zu mir herunter, ganz langsam. Gleich würde er mich küssen – und ich würde ihn nicht davon abhalten. Voller Anspannung erwartete ich den Moment, in dem das passierte, was im normalen Leben nicht passieren durfte … Aber das hier war nicht die Realität. Weiter konnte ich nicht denken, denn plötzlich wurde ich mit einem gewaltigen Ruck nach hinten gerissen. Ich verlor den Halt unter den Füßen und fiel. Mit weit aufgerissenen Augen stürzte ich eine schier endlose Klippe hinunter. Oben stand Bens Doppelgänger und sah mit ausdruckslosem Gesicht auf mich herunter. Hatte er mich gestoßen? Aber er hatte mir doch helfen wollen! Gleich würde ich auf den scharfen Felsen aufschlagen, nur noch wenige Meter und …

      Orientierungslos blickte ich in das helle Licht über meinem Kopf. War ich tot? Vorsichtig bewegte ich meine Zehen. Hm, ich konnte mich noch bewegen. Und das Pochen in meinem Kopf fühlte sich auch nicht so an, als wäre ich zu einem Geistwesen mutiert. Nein, ich schwebte definitiv nicht auf einer Wolke im fernen Nirvana. Ich lag in einem fremden Bett mit hellblauem Blümchenbezug. Das Licht, in das ich schaute, kam von einem üppig geschmückten antiken Kristallleuchter. Langsam rappelte ich mich hoch. Dieses Zimmer hier wirkte auf mich genauso fremd wie der Urwald, durch den ich gerade noch gestolpert war. Auf der schnörkeligen Kommode neben dem Fenster standen ca. ein Dutzend Bilderrahmen unterschiedlichster Form und Größe. Vorsichtig erhob ich mich und tapste barfuß über das Parkett zu den bunten Fotos. Auf vielen von ihnen sah ich das Gesicht eines hübschen rothaarigen Mädchens. Zum Teil waren es Kinderfotos – die Kleine in gelben Gummistiefeln mitten im Watt an der Nordsee oder mit einem Hundewelpen auf dem Schoß. Manche Bilder zeigten sie als schöne junge Frau im Kreise ihrer Freundinnen, im Abendkleid und in Umarmung eines jungen Mannes, der mir sehr bekannt vorkam. Vorsichtig hob ich das Foto von der Kommode, um es eingehender zu betrachten. Ben wirkte jünger und fröhlicher als ich ihn kannte. Sein Lachen war ehrlich und das Mädchen in seinen Armen drückte ihr Gesicht an seine Schulter. Ja, jetzt wusste ich wieder, wo ich war. Plötzlich hörte ich, wie hinter mir eine Türklinke heruntergedrückt wurde. Hastig stellte ich das Foto wieder an seinen Platz und drehte mich herum. Etwas zu ruckartig vielleicht, denn jetzt spürte ich, dass ich die Kontrolle über meinen Gleichgewichtssinn noch nicht vollständig zurückerlangt hatte. Die Wände um mich herum drehten sich wie ein Karussell und ich sackte in die Knie und warf dabei das soeben betrachtete Foto um, das klirrend auf dem Boden landete.

      „Tut … mir leid …“, stammelte ich benommen, als ich die Scherben auf dem Parkett entdeckte.

      „Sofia!“, mit besorgter, aber irgendwie auch erleichterter Miene griff Ben mir unter die Arme und zog mich vom Boden hoch. Taumelnd hielt ich mich an ihm fest und ließ mich widerstandslos zum Bett zurückführen. „Seit wann bist du wach?“, fragte er.

      Ich runzelte die Stirn. Was für eine dumme Frage. Glaubte er tatsächlich, dass ich stundenlang auf dem Bett gesessen und Däumchen gedreht hatte? Und vor allem – hatte er mich hier so lange alleine gelassen? „Na seit gerade eben“, antwortete ich matt, während er mir eines der dicken Paradekissen in den Rücken stopfte. Ich konnte mir nicht helfen, aber irgendwie kam ich mir doof vor, mich so von meinem Bruder „bemuttern“ zu lassen. Doch während ich noch leise vor mich hin grummelte, schenkte Ben mir ein sanftes Lächeln.

      „Wir haben uns Sorgen um dich gemacht“, sagte er mit einem tiefen Seufzer.

      „Warum denn?“

      „Du stellst Fragen! Kaum dass wir bei Julie angekommen waren, bist du umgekippt und warst nicht mehr ansprechbar. Du hattest über 40 Grad Fieber und hast wirres Zeug geredet. Als wir dich ins Bett brachten, hab´ ich gesehen, dass du eine tiefe Wunde am linken Oberarm hast, die sich entzündet hatte. Um ein Haar wärst du an einer Blutvergiftung krepiert, du dummes Ding!“

      Blutvergiftung? Langsam dämmerte es mir. Der alte Schuppen in Dr. Potters Garten. Ich hatte mich an einer Harke oder etwas ähnlichem verletzt. Nach all dem, was danach passiert war, hatte ich diesen kleinen Unfall vergessen. Was war ein kleiner Kratzer schon im Vergleich dazu, dass ich fast erschossen worden oder im Excelsior verbrannt wäre? Ben holte neben dem Bett eine Flasche hervor und goss mir etwas Wasser in das leere Glas auf meinem Nachttisch. Tatsächlich hatte ich wahnsinnigen Durst. Als er mir das Glas reichte, trank ich es in einem Zug leer und musste gleich darauf husten, weil ich mich verschluckt hatte. „Nicht so schnell!“ Mein Bruder schüttelte den Kopf, so als würde er an mir verzweifeln.

      „Wie lange hatte ich denn Fieber?“, hustete ich, während er mir vorsichtig auf den Rücken klopfte.

      „Zwei Tage und zwei Nächte“, antwortete er ernst. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich anscheinend wirklich mit dem Tode gerungen hatte. „Zum Glück hat sich Linus´ `Leibarzt´“, er sprach das Wort mit einer gewissen Verachtung aus, „um dich gekümmert. Ohne Papiere hier in Amsterdam wäre es sonst schwierig gewesen, unentdeckt zu bleiben.“

      Natürlich. Ben hatte Recht. Ich hatte uns und unser Vorhaben in Gefahr gebracht. Aber dieser Linus hatte anscheinend für jedes Problem eine Lösung parat. Wieder hörte ich die Tür quietschen; diesmal war es Julie, die vorsichtig ins Zimmer lugte.

      „Du bist aufgewacht!“, bemerkte sie mit einem strahlenden Lächeln und schwebte zu Ben ans Fußende meines Bettes. Ich kam mir reichlich dumm vor.

      „Mir geht´s schon wieder gut“, wiegelte ich das übertriebene Interesse an meiner Person ab und versuchte mich aufzurappeln, doch Ben schob mich mit strenger Miene wieder zurück auf mein Kissen.

      „Du bleibst erst mal schön liegen!“, sagte er und zog warnend seine linke Augenbraue in die Höhe.

      „Jawohl, Sir!“ Ich verschränkte beide Arme vor der Brust. „Na, wenn du dich schon wieder zanken kannst, dann bist du auf dem Weg der Besserung!“ Julie lachte und zwinkerte mir zu. Warum nur war sie so freundlich zu mir? War das