Die Wolfssymphonie. Marius Daniel Popescu. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marius Daniel Popescu
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906050171
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der sich im Bau befindenden Tabakfabrik dienten. Dieser Tank war ein riesiger Betonzylinder, und um ins Wasser zu gelangen, hatten die Arbeiter eine Art Leiter aus Betoneisen zusammengebastelt, die bis zum Wasser hinunterreichte. Zwischen dem Rand des Tanks und der Wasseroberfläche waren zwei Meter. Während dieser Mann badete, hast du die Leiter entfernt. Du hast ihn dazu gezwungen, bis zur Erschöpfung zu schwimmen, und du hast ihm zu verstehen gegeben, dass du ihn ertrinken lassen könntest. Er hat zu schreien angefangen. Du hast ihn angeschaut und hast gesagt, dass ihn keiner hören könne. Er wusste, dass niemand seine Schreie hören würde. Der Tank befand sich einige Hundert Meter von der Baustelle entfernt. Du warst zwölf Jahre alt. Der Mann im Wasser war fünfzig. Du hast die Leiter wieder angebracht, und er hat sich daran festgeklammert. Du hast gesagt: «Das nächste Mal lasse ich dich ertrinken, wenn du mich nicht in Ruhe lässt!»

      Er hat Angst gehabt. Er ist zu deinem Vater gegangen und hat ihm gesagt, dass du ihm Angst eingejagt hättest. Dein Vater hat dir Fragen gestellt. Dein Vater wusste, dass einige seiner Arbeiter dich hänselten. Bei einem anderen Arbeiter, der dich hänselte, hast du auf alle seine Werkzeuge Kugellagerschmieröl getan. Er hat Stunden gebraucht, sie wieder zu reinigen. Dieser Mann hatte dich beleidigt. Er machte Anspielungen auf deine Mutter. Er sagte, er wolle, dass du ihm deine Mutter vorstellst, und du hast ihm gesagt, dass du ihm etwas antun könntest, aber er hat es dir nicht geglaubt. Er hat gemerkt, dass du es ernst meinst, als du eine Eisenstange neben ihm hast fallen lassen. Er kam mit einer mit frischem Beton gefüllten Schubkarre vorbei, und du hast diese Stange aus dem zweiten Stockwerk des Baugebäudes fallen lassen. Du hast sie einige Meter von ihm entfernt fallen lassen. Als er gestoppt hat, hat er nach oben geschaut und hat dich gesehen. Du hast gesagt: «Wenn du nicht aufhörst, mich zu schikanieren, werfe ich sie dir auf den Kopf!», und er hat dir nie wieder etwas getan. Später wurde er ein Freund von dir. Er hat dir sein Handwerk beigebracht. Einige Arbeiter deines Vaters erzählten dir von ihrem Handwerk, du hörtest ihnen zu, und sie schätzten es, dass du interessiert und aufmerksam zuhörtest. Irgendwann schikanierte dich niemand mehr. Man akzeptierte dich. Die Arbeiter sprachen über alles in deiner Gegenwart, und du warst über alle ihre Probleme auf dem Laufenden. Du hast deinem Vater nie davon erzählt, was du die anderen reden hörtest. Du hast den Arbeitern deines Vaters Geld gepumpt, und sie haben es dir an ihrem Zahltag zurückgegeben. Du hast Geld von deinem Taschengeld, das dein Vater dir gab, ausgeliehen. Auch dein Vater hat seinen Arbeitern Geld geliehen. Jeden Monat gab es Leute, die anderen Geld pumpten. Am Tag der Beerdigung deines Vaters sind mehrere Arbeiter zur Frau deines Vaters gegangen und haben ihr Geld gegeben, das den Schulden entsprach, die sie bei deinem Vater hatten, der gestorben und in diesem Sarg auf dem Tisch aufgestellt war. Alle sagten «Gott sei mit ihm!» Dein Vater war nicht zufrieden mit seinem Nachtwächter. Jede Nacht wurde Baustellenmaterial gestohlen. Sein Nachtwächter schlief während seines Dienstes. Er schlief in einer kleinen Blechbaracke. Er machte seine Rundgänge nicht. Eines Nachts, gegen ein Uhr morgens, hat dich dein Vater geweckt und hat gesagt, «zieh dich an!», und er hat dich mitgenommen, um die Arbeit des Baustellenwächters zu überprüfen. Ihr seid ganz nahe an die Blechbaracke des Wächters herangegangen, dann seid ihr eingetreten und habt ihn auf einem aus mehreren Matratzen improvisierten Bett schlafen sehen. Dein Vater hat ihm die Mütze vom Kopf genommen, hat die Pistole vom Gürtel gelöst, und ihr seid wieder gegangen, während er noch immer schlief.

      Du hast eine Weile mit der entladenen Pistole und der Mütze des Nachtwächters gespielt. Am nächsten Morgen hat ihn dein Vater entlassen. Alle Nachtwächter schliefen während ihres Dienstes, und jede Nacht stahlen Leute aus dem Dorf Blech, Backsteine, Betoneisen, Nägel oder Bretter. Die Baustelle benötigte immer mehr Material als geplant. Dein Vater hat den Mitgliedern der Einheitspartei immer gesagt, dass die Leute des Dorfes das Material, das sie für die Reparatur ihrer Häuser benötigten, auf dem Markt nicht finden können. Dein Vater sagte, dass die Kosten für Baumaterial für Private viel zu hoch seien. Die Regionalführer der Einheitspartei sagten ihm, dass es in diesem Land keine Privatwirtschaft gebe. Dein Vater ist gestorben, und mehrere Mitglieder der Einheitspartei sind gekommen, um ihm zu sagen: «Gott sei mit dir!»

      * * *

      Ich werde jetzt einen Kaffee machen. Einen für dich und einen für mich. Ich stehe auf, schiebe den Stuhl unter den Tisch, bis die Stuhllehne das blaue Tischtuch berührt, drehe mich zum Wandschrank, in dem die Blechdose mit dem gemahlenen Kaffee steht, öffne die Schranktüren, und mit der rechten Hand nehme ich die Kaffeedose und stelle sie hinter mir auf den Tisch. Ich gehe an dir vorbei, zwischen der Wand und deinem Stuhl, mache drei Schritte bis zur Kaffeemaschine, nehme den Kaffeeportionierer und gehe zum Spülbecken, ich nehme einen Kaffeelöffel und säubere den Portionierer, dann gehe ich zurück zum Tisch, gebe Kaffee in den sauberen Portionierer und bringe ihn an der Kaffeemaschine an. Das Kind wird auf den Knopf der Kaffeemaschine drücken wollen. Sie liebt es, Knöpfe zu drücken. Du bist ihr ein kleines Plastikpiano kaufen gegangen, mit mehreren Tasten, etwa zehn, glaube ich. Sie liebt es, auf die Tasten des Plastikpianos zu drücken. Du hältst sie im Arm, und sie drückt, eine Hand um deinen Hals gelegt, auf den Knopf der Kaffeemaschine. Sie sieht nur, wie ein kleines grünes Licht hinter dem Knopf aufleuchtet. Sie hört den Lärm der Kaffeemaschine und sieht die braune Flüssigkeit, die in die Tasse läuft. Sie wird etwas sagen, ihre eigenen Wörter.

      * * *

      Das Wort «Gott» dürfte es auch nicht geben. Das Wort «Partei» ist ebenfalls überflüssig unter den Wörtern. Das Wort «Partei» dürfte es nicht geben. Dein Vater hat dir beigebracht, Partei außerhalb jeder Partei zu ergreifen. Er akzeptierte die Einheitspartei nicht, und er akzeptierte auch keine andere Partei. Er ergriff lediglich Partei. Du hast etwas gemeinsam mit ihm. Du ergreifst unaufhörlich Partei und analysierst jede Partei. Du möchtest verstehen, wie diese Parteien funktionieren. Du möchtest verstehen, wie die Einheitspartei vorgeht gegen andere Parteien, die nicht anerkannt sind. Es gibt andere Parteien, aber sie sind nicht legal. Die anderen Parteien sind Überreste der Parteien von vor dem Zweiten Weltkrieg. Es gibt Tausende von Leuten, die nicht der Einheitspartei angehören. Ich bin einer von denen, die unter der Einheitspartei gelitten haben. Du weißt das. Du weißt, dass die Einheitspartei uns zwei Häuser und alles Land, das uns dein Urgroßvater vermacht hatte, genommen hat. Du weißt, dass die Einheitspartei mir untersagt hat, meinen Beruf als Grundschullehrer in der Stadt auszuüben. Du weißt, dass ich mich von deiner Großmutter scheiden lassen musste, damit meine beiden Söhne, dein Vater und dein Onkel, auf die Universität gehen konnten. Du weißt, dass die Einheitspartei alle meine Jagdgewehre konfisziert hat. Du weißt, dass die Einheitspartei uns heute Brot gegen Marken ausgibt, und dass jede Person eine Brotmarke hat, auf dem jeden Tag das Pfund Brot, das man kauft und das man isst, angekreuzt wird. Du weißt, dass wir für das Begräbnis deines Vaters Extramarken beantragen mussten, für das Brot, das die Leute, die zur Beerdigung deines Vaters kamen, essen würden. In dem Haus, in dem ich mit meiner zweiten Frau, deiner Stiefgroßmutter, wohne, hat mich die Einheitspartei dazu gezwungen, drei Zimmer unterzuvermieten. Einmal, vor fünf Jahren, glaube ich, bist du mit deinem Vater zu uns gekommen, und ihr wart dreckig wie Schornsteinfeger. Dein Vater und du, ihr hattet auf einer seiner Baustellen Verstecken gespielt, und ihr seid zu uns gekommen, ohne euch zu waschen, und eure Kleider waren voller Farbe, Teer, Zement und Staub. Ihr habt euch bei uns gewaschen, ihr habt euch zu uns an den Tisch gesetzt, und wir haben auf die Gesundheit aller unserer Familienmitglieder getrunken und zu essen angefangen. Während dieses Essens habe ich deinem Vater meine Probleme mit meinen Untermietern anvertraut. Die Untermieter damals waren allesamt Mitglieder der Einheitspartei. Sie verachteten mich und nannten mich «Volksfeind!» und «Drecksbourgeois!» Ich hatte ihnen mehrfach gesagt, dass ich zwei Weltkriege mitgemacht hätte, und dies als Soldat, aber ich war ihnen nicht wert genug, normal behandelt zu werden. Ich habe beim Bürgermeisteramt eine Beschwerde eingereicht, und die, die auf meine Beschwerde geantwortet haben, meinten, ich solle meine Vergangenheit hinter mir lassen. Das alles habe ich deinem Vater erzählt. Du erinnerst dich daran: Er hat sein Glas auf dem Tisch abgestellt, ist aufgestanden, und du hast ihm folgen wollen. Er hat gesagt «bleib hier!», er ist zur Küche hinausgegangen, und eine halbe Stunde später sind die drei Mitglieder der Einheitspartei, alle drei Beamte eines Textilunternehmens, mit all ihren Möbeln und ihren Sachen auf der Straße gestanden. Sie haben die Polizei gerufen, und dein Vater hat mit den Polizeibeamten der Einheitspartei gesprochen. Er hat ihnen gesagt, dass Respekt etwas Essenzielles sei, und dass diese drei Mitglieder der Einheitspartei