Die Wolfssymphonie. Marius Daniel Popescu. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marius Daniel Popescu
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906050171
Скачать книгу
Zirkus geführt und in einen großen Park der Hauptstadt, und in diesem Park hatte es einen großen See, auf dem er mit dir Boot gefahren ist und dir das Rudern beigebracht hat. Von deinem Vater hast du gelernt, wie man die Ruder hält und wie man rudert. Dein Vater mochte die Polizisten nicht. Er hatte dir mehr als einmal erklärt, dass die Polizisten keine echten Polizisten seien, weil sie die Einheitspartei verteidigten. Da die Einheitspartei nicht von Bedeutung war, waren die Polizisten, welche die Einheitspartei verteidigten, ebenfalls ohne jede Bedeutung. Jedes Mal, wenn er einen Polizisten sah, sagte dein Vater, «schau ihn an, den da, er hat keine Ahnung, dass er nur eine Marionette ist!» Du hast den Polizisten in Blau angeschaut, und du hast gesehen, du hast verstanden, dass dieses Polizistenblau eine Marionette war. Du hast Fragen gestellt, dir selbst, in deinem Kopf, über die Marionetten. Dir ist bewusst geworden, dass es menschliche Marionetten gibt. Du hast deinen Vater angeschaut, wie er andere angeschaut hat. Dir ist bewusst geworden, dass dein Vater, auch er, zu einer menschlichen Marionette wurde. Du bist an das Begräbnis deines Vaters gefahren, und du hast dich daran erinnert, dass du mit ihm warst, als du dir zum ersten Mal die Frage gestellt hast: «Werde auch ich eine Art menschliche Marionette sein?!»

      Wenn ihr in den Restaurants der Hauptstadt zusammen aßt, lud dein Vater Frauen an euren Tisch ein, und er fragte dich, «willst du sie, diese Dame, als neue Mama haben?!» Er tat dies vor der neben dir sitzenden Frau, du hast die Frau angeschaut, du hast deinen Vater angeschaut, und du hast gesagt, «nein, ich brauche keine neue Mutter! Die Frau kann bei uns bleiben, sie stört mich nicht!» Bei jeder Frau, die dich und deinen Vater begleitete, hast du aufs Neue die Seite der menschlichen Marionette gesehen. Auch mir hat dein Vater etliche Frauen vorgestellt. Er wollte meine Meinung über ihre Schönheit wissen, und ich habe ihm gesagt, dass mein Haus das Haus meiner Söhne sei und dass die Welt schön sei und dass die Schönheit der Welt auch von diesen Frauen herrühre und von ihm selbst. Auch dir hat er Fragen über seine Frauen gestellt. Er hat deine Ansicht über die Frauen, mit denen er zusammenlebte, berücksichtigt. Du fuhrst zu seiner Beerdigung, und du wusstest, dass du an seiner Beerdigung seiner Frau begegnen würdest. Dir waren alle Begegnungen mit der neuen Frau deines Vaters im Gedächtnis geblieben. Nach der Scheidung von deiner Mutter blieb er dreizehn Jahre lang unverheiratet. Er hat nach dreizehn Jahren Ehelosigkeit wieder geheiratet. Während dieser dreizehn Jahre hat dein Vater viele Frauen geliebt. Er hat alle Frauen, denen er begegnet ist, geliebt. Auch ich habe alle Frauen, denen ich begegnet bin, geliebt. Auch du, ich weiß es, liebst alle Frauen, denen du begegnest. Du bist uns ähnlich, deinem Vater und mir, was das angeht. Aber du hast uns etwas voraus, deinem Vater und mir: Du nimmst sie alle mit dir mit, und du machst aus ihnen Wolken, von denen du Regen verlangst, wann immer du willst. Nach dem Tod deines Vaters bist du in diese Stadt im Flachland gekommen, wo du an sein Begräbnis gehen musstest. Du bist aus dem Wagen gestiegen, in dem du per Anhalter mitgefahren warst, und bist zu Fuß zum Haus gegangen, in dem dein Vater mit seiner neuen Frau, deiner Stiefschwester, der Mutter seiner Frau und der Großmutter seiner Frau gelebt hatte. Du hast die Leute angeschaut, die den Gehsteig entlanggegangen sind, und die Autos auf den Straßen. Du hast die Taxis angeschaut. Du hast in jedem Taxi deinen Vater gesehen. Alle Taxis fuhren in die Hauptstadt zum Begräbnis deines Vaters. Alle Taxifahrer von allen Taxis aßen in großen Gaststätten, und sie sprachen von der Beerdigung deines Vaters. Als du in der Straße, in der dein Vater wohnte, angekommen bist, hast du von weitem mehrere Taxis gesehen, die in der Nähe des Hauses deines Vaters geparkt waren. Ich hatte diese Taxis gemietet, damit sie während der Vorbereitungen zum Begräbnis zur Verfügung standen. Die Leute, die an das Begräbnis kamen, konnten diese Taxis benutzen, um sich in der Stadt zu bewegen. Wie alt war ich, als dein Vater starb? Dein Vater ist im Jahr des Erdbebens gestorben. Dein Vater ist ein paar Monate nach dem Erdbeben gestorben. Das Erdbeben hinterließ mehrere Tausend Tote. Dein Vater ist nicht bei diesem Erdbeben gestorben. Er ist danach gestorben. Als er starb, war ich siebenundsiebzig Jahre alt. Du hast an deine Mutter gedacht und an deinen Stiefvater, der seit langem mit ihr in einer anderen Stadt lebte. Deine Mutter und dein Stiefvater wussten, dass dein Vater dich ein paar Mal im Jahr im Taxi abholte. Du hast an deinen Onkel gedacht, den Bruder deiner Mutter. Auch er wusste, dass dein Vater es liebte, dich im Taxi abzuholen. Du hast an deine Tante gedacht, die Frau des Bruders deines Vaters. Du hast an deine Tante gedacht, die Schwester deiner Mutter. Du hast an den Mann der Schwester deiner Mutter gedacht. Du hast an mich gedacht, deinen siebenundsiebzigjährigen Großvater. Du hast an mich gedacht und an meine erste Frau, deine Großmutter, die starb, bevor du zur Welt kamst. Du kanntest sie nur von Fotos. Du hast an meine Frau gedacht, deine Stiefgroßmutter. Du hast an deine Großmutter mütterlicherseits gedacht, die mit einem Eimer aus Keramik Wasser über dich geschüttet hat, damit du sauber sein würdest für das Begräbnis deines Vaters. Du hast an deinen Großvater mütterlicherseits gedacht, du hast an deine Cousins und Cousinen gedacht. Du hast an deine Schulfreunde gedacht und an alle anderen Kameraden und Kameradinnen. Du hast an alle Nachbarn aller Häuser, die du kanntest, gedacht. Du hast an alle Passanten gedacht, die du je gesehen hast. Du hast an alle menschlichen Wesen gedacht, und du bist in den Hof des Hauses der Frau deines Vaters, der gerade in einem Unfall ums Leben gekommen war, getreten. Es waren viele Menschen im Hof, die du kanntest und die dich nicht kannten. Nicht alle wussten, dass du der Sohn des Verstorbenen warst. Du warst das einzige Kind des Verstorbenen. Du bist der einzige Sohn. Deine Mutter hat dir gesagt, du seist das Kind Gottes. Du bist als Gotteskind in diesen Hof getreten und hast die Leute angeschaut und nach bekannten Gesichtern gesucht. Du hast Leute gesehen, an denen du den Widerschein der Einheitspartei gesehen hast, und du hast Leute gesehen, an denen du den Widerschein der menschlichen Marionette gesehen hast. Dir ist bewusst geworden, dass am Begräbnis deines Vaters Leute jeder Art waren. Du hast mich gesehen, du bist auf mich zugekommen, und wir haben uns umarmt. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich dich zum Begräbnis deines Vaters habe kommen sehen, aber du hast nicht geweint. Du hast gefragt: «Wo ist Papa?», und ich habe geantwortet, dass er noch in der Leichenhalle sei. Wir beide sind mehrere Minuten einander gegenüber gestanden, ohne etwas zu sagen. Wir haben uns in die Augen gesehen oder den Himmel angeschaut oder die Leute, die an das Begräbnis deines Vater gekommen waren. Wir sind so stehen geblieben, bis zu dem Moment, in dem dein Onkel, mein anderer Sohn, gekommen ist, um dich zu begrüßen, und ich habe dich in seinen Armen weinen sehen, und ich wusste, dass du zum zweiten Mal in deinem Leben weintest und dass du beim Weinen an die Mutter deines Vaters und an die Beerdigung deines Vaters dachtest. Als du zu weinen aufgehört hast, hast du dich zu mir umgedreht und gesagt, «der Tod ist eine Marionette, Großvater!»

      Erinnerst du dich? Dann kamen Leute, um dir zu kondolieren. Leute, die deinen Vater kannten. Alle haben dir nur Gutes von ihm erzählt. Du wusstest, dass die Leute den Tod nicht mochten. Du hast den Tod auf dem Gesicht jeder Person, die an die Beerdigung deines Vaters gekommen war, gesehen. Seit dem Tag des Begräbnisses deines Vaters kannst du den Tod in jedem Gesicht sehen. Du kannst den Tod in deinem Gesicht sehen. Du schaust dich im Spiegel an und kannst das Gesicht der Marionette sehen, das deines überdeckt. Du schaust im Spiegel die Marionette an, und sie schaut dich an. Du schaust sie an, bis sie ihren Blick abwendet. Dein Onkel war mit seiner Frau gekommen. Dein Vater mochte die Frau seines Bruders nicht. Als dein Cousin geboren wurde, lag deine Großmutter auf dem Sterbebett, und einer ihrer letzten Wünsche war, ihren ersten Enkel noch zu sehen. Die Frau deines Onkels wollte mit dem Kind nicht zu ihr kommen. Sie wollte der Großmutter, die auf dem Sterbebett lag, das Kind nicht zeigen, und dein Vater, der Tag und Nacht am Bett seiner kranken Mutter wachte und von ihrem Wunsch wusste, ihren Enkel noch vor ihrer Reise ins Himmelreich zu sehen, er, dein Vater, ist zum Haus seines Bruders gegangen und hat das frisch geborene Kind mitgenommen, um es seiner Mutter zu bringen. Die Großmutter hat ihren ersten Enkel gesehen und ist ein paar Stunden später gestorben, im Seelenfrieden. Um das Kind seiner Großmutter zu zeigen, musste er seine Schwägerin mehrmals ohrfeigen. Dein Onkel wollte dazwischengehen, aber er hat es nicht getan. Im Haus deines Onkels hat die Frau die Hosen an. Dein Onkel wollte seine Frau dazu bringen, mit dem Kind zur Großmutter zu gehen, aber sie wollte nichts davon wissen. Dein Vater hat ihnen gesagt, dass er imstande sei, ihnen beiden die Fresse zu polieren, wenn sie nicht bald begreifen würden, worum es ginge. Dein Onkel hat sehr wohl verstanden, worum es ging. Er hat deinen Vater machen lassen. Dein Vater hat ein Taxi genommen, und beide sind sie hingefahren. Dein Vater hat den Jungen seiner Großmutter gezeigt, sie hat ihn einige Sekunden lang in ihre Arme genommen, dann hat sie ihn deinem Vater zurückgegeben. Sie hat sich bedankt und gesagt, «bring ihn jetzt zu seinen Eltern