Alles Alltag. Sascha Wittmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sascha Wittmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903061828
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in das kleine Dorf mit den Straßen aus Lehm, den Gemüsegärten hinter den Häusern und den notdürftig geflickten Dächern gekommen. Sie hat den Fahrer des Kleinbusses gebeten, auf sie zu warten. Dieser war einverstanden, es dürfe aber nicht zu lange dauern. Die alte Frau hat ein großes, doch leichtes Paket aus dem Gepäcksraum geholt, an der Haustür geklopft. Sie wurde schon erwartet.

      Die junge Frau, die die Tür geöffnet hat, zog sie herein, bot ihr Tee an, den die alte Frau ablehnte, es musste ja schnell gehen. So gingen beide in das einzige Zimmer hinter der Küche. Die junge Frau rief das ungefähr sechsjährige Mädchen, das am Küchentisch aus alten Zeitungen Girlanden ausschnitt, zu ihnen. Dann öffnete die alte Frau das Paket, nahm ein langes, weißes Kleid heraus, einen Schleier, einen gestärkten Unterrock. Die junge Frau zog ihre Kleiderschürze aus, auch das alte T-Shirt, das sie darunter getragen hatte. Vorsichtig stieg sie zuerst in den gestärkten Unterrock, streifte das Kleid über den Kopf. Die alte Frau half ihr beim Schließen der Haken am Rücken, dann stieg die Junge auf einen Sessel. Das Kleid passte. Änderungen waren nicht notwendig. Zum Glück. Die alte Frau atmete auf. Der Auftrag sicherte ihr das Holz für den halben Winter. Aber es war schwierig gewesen, Stoff in guter Qualität zu einem günstigen Preis aufzutreiben. Und es musste schnell gehen. Die junge Frau wollte ja schon am gleichen Tag mit dem Bus nach Österreich fahren. Wohl zum letzten Mal. In Zukunft würde sie fliegen. Die Alte schaute nur kurz in das Kuvert, das ihr die Junge in die Hand gedrückt hatte. Ja, es war die ausgemachte Summe, sogar ein bisschen mehr. Sie ermahnte die Junge, das Kleid sofort wieder auszuziehen, damit es nicht schmutzig würde. Doch diese lachte, wendete sich dem Mädchen zu, das die Prozedur bisher schweigend und ernst beobachtet hatte. Also steckte sie das Kuvert ein, während die Junge vom Sessel herunterstieg. Die Alte beeilte sich, schließlich warteten die anderen Frauen im Bus. Schon seit Wochen hatten sie ihre Familien nicht mehr gesehen. Und der Bus musste ja pünktlich wieder zurück sein, um andere Frauen zu ihrer Schicht nach Österreich und Deutschland zu bringen. Diesmal würde auch eine Frau dabei sein, die nur für die Hinfahrt bezahlt hatte, die sich fest vorgenommen hatte, nie wieder in einen dieser Kleibusse zu steigen, wenn sie diese letzte, vielstündige Fahrt, zusammengepfercht mit anderen jungen Frauen, überstanden haben würde.

      Kaum war die Alte gegangen, tänzelte die Junge im Zimmer auf und ab, drehte sich zu dem Mädchen.

      »Schau, Anuschka, ist Mama nicht wunderschön in diesem Kleid? Du musst dir nur noch vorstellen, dass ich geschminkt bin und weiße Rosen ins Haar geflochten habe. Mama wird die allerschönste Braut sein, die es jemals gegeben hat. Und ich werde dir ganz viele Fotos mitbringen. Versprochen. Nein, vom Kuchen kann ich kein Stück für dich aufheben, der würde doch verderben. Aber dafür besorge ich eine Sachertorte für dich. Jetzt haben wir ja keine Geldsorgen mehr. Das Kleid hat auch der Mann bezahlt. Ich habe das Geld genommen und es hier machen lassen. Das ist viel billiger. Was übrig geblieben ist, habe ich der Oma gegeben, damit ihr euch etwas leisten könnt. Und so werden wir das immer machen. Ich kaufe mit dem Geld von diesem Mann bei uns hier ein und lasse euch den Rest da. Außerdem weiß er ja, dass ich die Oma unterstützen muss. Das ist in Ordnung für ihn.«

      Das Mädchen drehte sich zum Fenster, die Ellenbogen auf das Brett gestützt, die Stirn an die Scheibe gedrückt.

      »Er ist kein böser Mensch. Du weißt doch, wie er aussieht, ich habe dir das Bild gezeigt. Na eben, er hat gute Augen, ist sogar recht fesch. Und so alt ist er auch wieder nicht. Viele Frauen heiraten ältere Männer. Und er hat ein Haus in Wien und sogar eine Ferienwohnung am Neusiedler See. Komm, ich mach dir jetzt eine Aufsteckfrisur, damit du auch so schön bist wie Mama.«

      Das Mädchen hatte sich wieder abgewendet.

      »Geh, warum schmollst du? Ich werde doch ganz oft kommen, mindestens jeden zweiten Monat. Das ist überhaupt kein Problem, weil ich ja nach der Oma schauen muss, das weiß er. Vielleicht kommt er einmal mit. Dann gehst du zu Tante Viktoria. Das habe ich mit ihr schon ausgemacht.«

      Die junge Frau zog vorsichtig das Kleid und den Unterrock aus, legte beide zusammen und zurück in die Schachtel, der Schleier kam obenauf. Statt der Kleiderschürze, die sie an einen Haken an der Tür hing, schlüpfte sie in Stretchjeans, ein neues T-Shirt mit einem Papagei aus bunten Pailletten darauf und weiße Turnschuhe mit rosa Schuhbändern. Das alte T-Shirt warf sie auf den Boden, nach kurzem Überlegen hob sie es auf und legte es in den Korb mit der schmutzigen Wäsche. Sie sah, wie das Mädchen auf den kleinen Koffer blickte, der neben dem Bett stand.

      »Nein, du kannst nicht mit nach Wien kommen. Der Mann weiß doch nichts von dir. Darf er auch nicht. Das war von Anfang an klar. Er will jetzt eine eigene Familie gründen, solange er noch jung genug dazu ist. Dafür bekomme ich alles, was ich mir wünsche: Kleider, Schmuck, sogar ein eigenes Auto.«

      Die junge Frau bürstete ihr langes, blond gefärbtes Haar, steckte es mit einer Klammer hoch. Ein kurzer Blick in den Spiegel über der Kommode: kein Makeup für die Fahrt. Aber Wimperntusche musste schon sein. Vielleicht war er noch zu Hause, wenn sie in der Früh in Wien ankam. Sie angelte nach ihrer Handtasche auf dem Bett. Das würde jetzt auch vorbei sein: keine nachgemachte Designerkleidung mehr, nur noch die echten Sachen. Gleich nach der Hochzeitsreise würde sie in diese Outlet-Center fahren. Und sie würde nie wieder alte Männer waschen, sie mit ihren Lieblingsspeisen füttern, es ertragen, dass sie ihr trotz aller Gebrechlichkeit immer noch an den Hintern fassten, beim Rasieren den Busen begrapschten.

      Im Spiegel sah sie das Mädchen, das immer noch stumm mit hängenden Schultern mitten im Raum dastand.

      »Nicht weinen, Anuschka. Ich bin doch bald wieder da. Außerdem: Wäre es dir lieber, wenn ich hier bleibe und wir wieder jeden Monat schauen müssen, wie wir das Geld für den Strom auftreiben? Nur Erdäpfel essen, an dein Kleid irgendeinen Fetzen anstückeln, wenn es dir zu klein geworden ist? Erinnere dich, wie dir die Füße wehgetan haben, weil du aus den Schuhen herausgewachsen warst und ich dir keine neuen kaufen konnte. Das ist jetzt alles vorbei. Und du wirst in die Schule gehen können, einen Beruf lernen, vielleicht sogar studieren.«

      Die Haustür wurde geöffnet, fiel wieder ins Schloss. Oma war zurück vom Einkaufen. Am Wochenende, wenn die Frauen aus Österreich und Deutschland kommen, gibt es im kleinen Geschäft am Kirchenplatz etwas zu kaufen. Wenn man es sich leisten kann. Omas Tasche war heute sehr leicht, man hörte es am Geräusch, als sie diese neben der Küchenkredenz abstellte.

      Die junge Frau würde jeden Monat Geld schicken, nahm sie sich vor, damit die Einkaufstasche jeden Samstag schwer auf dem Küchenboden aufschlug. Sie hockte sich vor das Mädchen, hielt sie an den Schultern.

      »Na also, es ist doch besser so. Du bist ja mein großes Mädchen. Gib Mama ein Bussi und mach der Oma keinen Ärger. Ich bin bald wieder da, längstens in zwei Monaten. Versprochen.«

      Dann warf sie die Handtasche über die linke Schulter, klemmte sich das Paket unter, fasste mit der rechte Hand den Koffer. Oma hatte in der Küche eine Kerze angezündet. Die junge Frau küsste ihre Mutter auf die Stirn, deutete ein Winken in Richtung des kleinen Mädchens an, öffnete mit zwei freien Fingern die Tür, trat sie mit dem rechten Fuß wieder zu.

      Es ist dunkel geworden, trotzdem ist in kaum einem Haus Licht.

      Deshalb ist nicht zu übersehen, dass der Kleinbus ganz pünktlich vor dem Häuschen halten wird.

       Zum Wohl!

      Liebe Mitbürger*innen,

      danke, dass Ihr in den letzten Jahren so treu zu uns gestanden seid. Wie Ihr alle wisst, war unser Weg nicht leicht, und nun sind wir am Ziel. Zumindest vorläufig. Aber ich versichere Euch, dass ich meine ganze Kraft dafür einsetzen werde, unsere Erfolge mit allen Mitteln zu verteidigen und weiter auszubauen.

      Eigentlich hatte ich an dieser Stelle einen Rückblick auf die vergangenen Jahre geplant. Doch wozu? Alte Wunden würden aufgerissen, und wir wollen uns doch in positivem Denken üben.

      Sicher, vor unserem finalen Sieg konnten wir auf einigen Errungenschaften aufbauen, an denen ich – an denen wir – nicht ganz unbeteiligt waren. Daran möchte ich gerne erinnern: Schon vor mehr als zehn Jahren wurde das Tabakrauchen drastisch eingeschränkt. Zuerst wurden Raucher*innen in Restaurants, Kaffeehäusern und