Molly fuhr heim. Da Fee jetzt hier war, brauchte sie nur noch halbtags zu arbeiten, was ihrer Familie zugute kam. Hätte sie ihre Tätigkeit jedoch ganz aufgeben müssen, wäre sie todunglücklich gewesen, denn sie war auch schon bei dem alten Dr. Norden Sprechstundenhilfe gewesen. Molly gehörte fast zur Familie, doch von ihrer eigenen wurde sie auch beansprucht wenn die Kinder auch aus dem Gröbsten heraus waren und ihr Mann – nach jahrelanger räumlicher Trennung lebten sie jetzt wieder in einem Haushalt – sich sehr zu seinem Vorteil verändert hatte.
Fee und Daniel fuhren mit dem Lift aufwärts in ihre Penthousewohnung, wo Lenchen schon mit dem Essen auf sie wartete.
Es war eine traumhaft schöne Wohnung, umgeben von einem Dachgarten, der das Gefühl vermittelte, hoch über den Dächern der Stadt in einer kleinen Welt für sich zu sein.
Lenchen, die treue Seele, sorgte mit Hingabe für Ordnung und das leibliche Wohl »ihrer« Kinder. Fee brauchte sich um nichts zu kümmern, und so war sie froh, sich in der Praxis nützlich machen zu können, denn sonst wäre ihr das Leben wohl doch zu langweilig geworden.
Lange Zeit für eine Mittagspause hatten sie nicht. Daniel musste Besuche machen.
In aller Eile hatte er Fee vom Fall Clermont erzählt, und zu Daniels Überraschung wurde Fee bei dem Namen stutzig.
»Der Biologe?«, fragte sie.
»Keine Ahnung, wie kommst du darauf?«
»Ich habe mal eine Abhandlung gelesen. Ein Dr. Clermont hat mal einen sensationellen Selbstversuch gemacht, um ein Mittel gegen Pilzvergiftung auszuprobieren. Das liegt zwei Jahre etwa zurück. Es ist mir in der Erinnerung haften geblieben, weil es mir gewaltig imponiert hat.«
»Und der Versuch ist gelungen, sonst würde er jetzt nicht noch leben. Aber wenn er wieder ein neues Experiment gewagt hat, scheint es nicht gelungen zu sein, denn jetzt schwebt er in Lebensgefahr.«
»Ich könnte mir auch kaum vorstellen, dass er ein Experiment in einer Pension macht«, sagte Fee nachdenklich. »Oder war es gar ein Selbstmordversuch? Sein Bruder, daran erinnere ich mich auch, ist durch Selbstmord aus dem Leben geschieden.«
»Was du für ein Gedächtnis hast. Es ist mir direkt unheimlich«, sagte Daniel.
*
André Clermont hatte die ersten beiden Penicillin-Injektionen schon bekommen. Das Fieber war zwar nur leicht gesunken, aber auf Jennys Zureden hatte sich Dr. Behnisch doch entschlossen, die so schlecht verheilte Wunde an der Hand zu öffnen und auf einen Fäulnisherd zu untersuchen. Das war wohl das Beste, was sie tun konnten, und auch das Beste für André Clermont, denn ihnen bot sich ein schrecklicher Anblick. Eiter quoll hervor, der ekelerregend gefärbt war.
Jenny sah in das fahle Gesicht des Patienten. Ein schmales, intelligentes Gesicht romanischen Charakters. Eine hohe Stirn, schmale, leicht gebogene Nase, dichte schwarze Augenbrauen und dichte, für einen Mann sehr lange Wimpern.
»Haben wir eigentlich die Personalien?«, fragte Jenny. »Man müsste etwaige Angehörige auf jeden Fall verständigen.«
»Sein Name ist André Clermont. Mehr weiß ich auch noch nicht«, erwiderte Dr. Behnsich.
»Clermont? Kommt mir irgendwie bekannt vor. Ist er Franzose?«, fragte Jenny.
»Keine Ahnung, er hat noch nicht mit uns gesprochen, Frau Doktor«, entgegnete Dr. Behnisch mit einem flüchtigen Lächeln.
»So bald wird er auch nicht mit uns reden«, sagte sie gedankenvoll. »Wir müssen uns erkundigen.«
»Daniel weiß sicher mehr«, sagte Dr. Behnisch vor sich hin. »Ich rufe ihn dann an.«
Das geschah eine halbe Stunde später. Dr. Norden war von seinen Besuchen noch nicht zurück. Fee nahm den Anruf entgegen. Sie war mit Dieter Behnisch schon per Du. Er war auch Gast auf ihrer Hochzeit gewesen, denn das hatte er sich nicht entgehen lassen wollen, dass sein Freund Daniel, den er für einen genauso eingefleischten Junggesellen gehalten hatte, wie er selbst einer war, seine Freiheit aufgab. Allerdings musste er zugeben, dass man für eine so bezaubernde Frau seine Freiheit gern aufgeben könnte.
Fee sagte ihm, dass sie überlege, ob es sich bei dem Patienten um den Biologen Dr. Clermont handeln könne, und versprach, sich mit Frau von Rosen in Verbindung zu setzen, um mehr zu erfahren.
Das tat sie dann auch gleich und bekam zur Antwort, dass er sich zwar als Dr. Clermont eingetragen hätte, aber man sonst auch nichts wisse. Eben wäre allerdings ein Herr gekommen, der Dr. Clermont besuchen wolle.
»Schicken Sie ihn bitte zuerst zu uns in die Praxis, Frau von Rosen«, sagte Fee, um im Nachhinein zu überlegen, warum sie darum gebeten habe.
Ich bin ja neugierig, ging es ihr durch den Sinn, doch bald wurde sie wieder abgelenkt. Patienten riefen sie an, baten um einen Termin oder um einen Besuch.
Dann kamen auch schon ein paar ganz Pünktliche, obgleich die Nachmittagssprechstunde erst um vier Uhr begann. Daniel rief an und fragte, ob etwas Besonderes vorläge. Aber sie ahnte, dass er nur Sehnsucht nach ihrer Stimme hatte. Das kannte sie ja schon. Dennoch sagte sie ihm, dass es wohl gut wäre, wenn er schnell bei der Behnisch-Klinik vorbeifahren würde.
Und gleich darauf erschien Leopold Steiger, der sich als Freund von Dr. Clermont vorstellte.
Er machte einen ausgesprochen sympathischen Eindruck, war mittelgroß, untersetzt und hatte humorvolle Augen, die Fee sofort gefielen. Allerdings nahmen diese einen ernsten Ausdruck an, als sie ihm sagte, dass Dr. Clermonts Zustand bedenklich sei.
»Ich dachte, Frau von Rosen übertreibe mit ihrer Besorgnis«, sagte er. »André ist nicht so schnell umzubringen.«
»Er soll auch nicht umgebracht, sondern gerettet werden«, erklärte Fee. »Verzeihen Sie meine Wissbegierde, Herr Steiger, aber handelt es sich bei dem Patienten um den Biologen Dr. Clermont?«
»Sie kennen ihn?«, fragte Leopold Steiger überrascht.
»Seinen Namen. Ich habe in einigen Fachzeitschriften Abhandlungen über ihn gelesen.«
»Die stammen von mir, aber André hat es nicht gern, wenn man darüber spricht. Unsere Freundschaft wäre fast darüber in die Brüche gegangen, aber es ist meine Meinung, dass alles, was der Menschheit dient, nicht im Verborgenen blühen soll.«
»Das ist auch meine Meinung. Besteht Grund zu der Annahme, dass er wieder ein Experiment an sich vorgenommen hat? Es ist eine Frage, die Sie natürlich nicht beantworten müssen.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Es muss ein unglückseliger Zufall sein. André hätte niemals andere in Schwierigkeiten gebracht, wenn er experimentiert.«
»Jedenfalls ist sein Zustand ernst. Ich habe es eben aus der Klinik erfahren, aber es ist wohl doch besser, wenn Sie sich direkt mit Dr. Behnisch in Verbindung setzen.«
Leopold Steiger sah sie nachdenklich an. »Nahe Verwandte hat mein Freund André nicht mehr. Sein Bruder starb vor drei Jahren, seine Mutter vor einem Jahr.«
»Sein Bruder war Chemiker und beging Selbstmord«, sagte Fee sinnend.
»Ja, er beging Selbstmord. Er hatte seine Gründe dafür«, erklärte Leopold Steiger nun kühl.
»Verzeihen Sie mir, wenn ich aufdringlich erscheine«, sagte Fee.
»Nein, so fass ich das nicht auf. Ich glaube, dass ich ein ganz guter Menschenkenner bin. Sie sind an André Clermont, dem Forscher, interessiert.«
»So ist es. Es mag wohl nicht jedem begreiflich sein, aber ich finde es fantastisch, wenn ein Mensch sein eigenes Leben einsetzt, um das Leben anderer zu retten.«
»André bedeutet sein eigenes Leben nichts mehr, das ist das Traurige«, sagte Leopold Steiger leise. »Aber nun glauben Sie bitte nicht, dass er es auch wegwerfen würde. Was ist eigentlich los mit ihm?«
»Das wird