»Warst du schon öfter hier, Mario?«, fragte er geistesabwesend.
»Hmm, manchmal. Habe das Wasser aber noch nicht gesehen. War auch nicht so nass hier. Habe immer nur die hübschen Blümchen für Mami gepflückt. Weißt du, die blauen, die wir so gern haben. Wollte heute auch welche pflücken.«
Er sah an sich herab. »Ganz schön dreckig«, murmelte er kleinlaut, »aber das Bein brennt gar nicht mehr. Ist auch nicht mehr entzündet, Papi.«
Aber er wunderte sich dann doch, dass Johannes ihn auf den Arm nahm, obgleich er doch so dreckig war und der Papi noch seinen weißen Kittel anhatte.
»Vielleicht hast du eine ganz große Entdeckung gemacht, Mario«, sagte Dr. Cornelius gedankenverloren.
Staunend waren die dunklen Kinderaugen auf ihn gerichtet.
»Was hat Mario für Entdeckung gemacht?«
»DasWasser. Die Quelle.«
»Quelle? Ist’n das?«, fragte Mario.
»Wasser, das aus der Erde drängt.«
»Ist nicht Erde, sind Steine«, sagte Mario. »Frühstücken wir jetzt?«
»Du wäschst dich erst mal, und ich muss etwas nachlesen.«
»Nicht lesen. Du musst essen. Mami sagt, dass du nachholen musst, was du morgens versäumst. Heißt doch versäumst?«
Er erkundigte sich oft, wenn ihm ein Wort noch nicht geläufig war, aber sein Gedächtnis war erstaunlich. Doch heute stellte Dr. Cornelius darüber keine Betrachtungen an, so sehr es ihn freute, dass der Junge so schnelle Fortschritte machte.
Er hörte auch gar nicht hin, als Anne sie mit dem Ausruf empfing: »Wie seht ihr denn aus?«
Er setzte den Jungen auf den Boden und eilte in die Bibliothek.
»Papi ist nicht böse«, sagte Mario, als Anne ihn konsterniert betrachtete. »Hat nicht schimpft. Mario hat Entdeckung gemacht, hat Papi gesagt.«
»Einen Sumpf scheinst du entdeckt zu haben«, sagte Anne. »So, wie du aussiehst, musst du darin herumgewatet sein.«
»War aber schön für mein Bein«, erklärte Mario. »Und das Wasser ist sauber. Kann man trinken. Papi sagt, das ist Quelle.Wasser aus der Erde.«
»Da scheinst du ja wirklich eine Entdeckung gemacht zu haben«, sagte Anne. »Aber waschen musst du dich trotzdem.«
»Das Wasser im Bad tut aber weh, Mami. Quelle tut nicht weh.«
»Katja wird dich ganz vorsichtig waschen und dir einen neuen Verband machen um dein Knie«, sagte Anne nachdenklich. Und Katja war auch schon zur Stelle. »Was hast du wieder angestellt, Mario?«, rief sie aus.
»Gar nichts. Habe nur etwas entdeckt«, versicherte er wieder. Anne eilte schon in die Bibliothek, und da sah sie ihren Mann vor einem dicken Folianten sitzen. Er war so vertieft, dass er ihr Kommen nicht hörte.
»Was ist denn, Johannes?«, fragte Anne.
Johannes Cornelius blickte auf, aber sein Blick schien noch in weiter Ferne zu weilen.
»Es stimmt, Anne«, sagte er. »Mario hat die Quelle entdeckt. Höre, was hier geschrieben steht: Die Quelle sprudelte aus den Steinen. Ein Kind, das geboren war, ohne Kraft zum Leben zu haben, wurde mit demWasser getauft, und wie durch ein Wunder gedieh es zu einem gesunden Knaben. Ein Mädchen, dessen Haut von eincm fürchterlichen Ausschlag befallen war, suchte dort Kühlung und wurde alsbald geheilt. Einer todkranken Bäuerin, die schon die letzte Ölung erhalten hatte, wurde das Wasser zu trinken gegeben, und sie genas.
So kamen sie zu Hunderten, doch der Markgraf erfuhr davon und verlangte, dass jeder, der die lnsel betrat, einen Taler entrichten müsse, und da versiegte die Quelle wie durch Zauberhand. Eine Seherin weissagte, dass sie erst dann wieder sprudeln würde, wenn ein unschuldiges Kind die Erde betrete, und sie nur dann ihre heilende Kraft spenden würde, wenn edle Menschen diese gerecht und ohne Profit verteilen würden.«
Dr. Cornelius blickte auf. »Was sagst du dazu, Anne?«
»Es ist eine Sage. Soll man daran glauben, Johannes?«
»Ich bin kein Prophet, aber es gibt Wunder, Anne. Ich will mir jetzt Marios Bein anschauen.«
»Katja wird ihn inzwischen gewaschen haben«, sagte Anne. »Ich habe nur einen entsetzlich schmutzigen kleinen Mario gesehen, und der Kittel meines Mannes sieht auch nicht viel besser aus.«
»Den kann man mit Leitungswasser waschen, aber das andere werde ich genau untersuchen.« Er legte den Arm um sie, und gemeinsam gingen sie zu Mario.
»Brauche keinen Verband mehr, Katja«, sagte er eben. »Ist schön verheilt, guck mal.«
»Da kann man wirklich nur staunen«, sagte Katja. »Du hast gesundes Blut, Mario.«
»Bin wieder ganz heil, wenn Fee und Daniel Hochzeit machen«, verkündete der Kleine.
»Aber jetzt verrätst du mir mal, wo du herumgestrolcht bist«, verlangte Katja.
»Verrat ich nicht. Weiß nur Papi. Ist unser Geheimnis. Hat Papi gesagt.«
»Ihr zwei Geheimnistuer«, scherzte Katja. Und dann sah sie Anne und Johannes in der Türe stehen.
»Du machst aber auch jeden Blödsinn mit, Paps«, meinte sie belustigt.
»Gehe mit Papi wieder auf Entdeckung«, wisperte Mario. »Jetzt können wir frühstücken.«
Johannes und Anne tauschten einen langen Blick. Sie waren sich einig. Sie wollten nichts verraten, und für Mario war es eben nur ein Abenteuer gewesen, wie er es liebte.
*
Ahnungslos, welch ein wundervolles Hochzeitsgeschenk ihnen beschert werden würde, sehnten Daniel und Fee nun ihren großen Tag doch mit fieberhafter Spannung herbei. Einstweilen ging zwar alles noch seinen altgewohnten Gang, wollte man davon absehen, dass Katja Fee jeden Tag ins Gedächtnis rief, was es noch zu erledigen gab, aber jeder Tag, den sie aus dem Kalender streichen konnten, brachte sie einander näher.
Mussestunden kannte Daniel kaum noch, seit das Schild an der Praxis verkündete, dass sie vom fünfzehnten Oktober an für drei Wochen geschlossen bleiben würde. Es war gerade so, als wollten seine Patienten sich vorher von allen ihren Beschwerden befreien. Auch Molly kam kaum noch zum Schnaufen, so oft musste sie die Frage beantworten, warum denn der Doktor gerade in dieser Zeit Urlaub machen wolle, wo doch meistens Erkältungen und Grippe kursierten.
Aber warum sollte es ein Geheimnis bleiben, dass es nun bald eine Frau Doktor geben würde, die ihren Titel selbst auch erworben hatte.
Gewiss würde manch eine Patientin nicht mehr so oft kommen, die es mehr auf den attraktiven Mann abgesehen hatte als auf den Arzt im Dienst, vielleicht würde auch manch eine enttäuscht ganz wegbleiben, aber das störte weder Daniel noch Molly. Er hatte nie ein Modearzt sein wollen, dazu nahm er seinen Beruf viel zu ernst. Und jene, die bei ihm wahrhaft Hilfe gesucht und gefunden hatten, waren in der Mehrzahl. Sie würden sich nur freuen, wenn seine Fee ihm ab und zu mal zur Hand gehen würde.
Wie froh war er zu hören, dass Astrid Hollenbergs Genesung so schnelle Fortschritte machte und sie die Klinik nun schon bald verlassen konnte. Dann wollte sie sich mit ihrem Mann auf der Insel der Hoffnung erholen, um ganz frisch zu sein für die Hochzeit, die ihnen ins Haus stand.
Von August Brugger wurde kaum noch gesprochen. Verschiedene Firmen hatten sich zusammengeschlossen, um die Arbeitsplätze zu erhalten, und verschiedene Banken waren auch bereit, dabei Hilfe zu leisten. An Matthias Hollenberg war man dabei nicht herangetreten. Es kränkte ihn durchaus nicht.
Jörg war jetzt der Juniorchef, von allen respektiert und genauso gewissenhaft wie sein Vater und wie es schon der Großvater gewesen war.
Und so langsam sprach es sich auch herum, dass Trixi