Dazu sollte er an diesem Tage noch Gelegenheit haben. Allerdings wusste er das nicht, als er Astrids Zimmer betrat. Trixi war kurz zuvor gegangen, und ihre Mutter war gerade wieder im Einschlafen begriffen.
Für Dr. Norden hielt sie sich gewaltsam munter. Sie freute sich über seinen Besuch, aber schon nach wenigen Minuten fielen ihr dann doch die Augen zu.
»Ich bin Ihnen so dankbar«, hatte sie gesagt, »und wenn Trixi glücklich wird, wenn sie nur glücklich werden kann«, hatte sie gemurmelt.
Daniel traf Dr. Gordon nicht mehr. So wusste er auch nicht, dass Trixi noch bei ihm gewesen war und gerade die Klinik verließ. Aber er sah sie, wie sie in ihren Wagen stieg. Er hätte gern ein paar Worte mit ihr gewechselt, konnte sie aber nicht mehr erreichen.
Er selbst fuhr auch gleich wieder los und sah dann, wie Trixis Wagen rechts abbog. Komisch, dachte er, was hat Brugger nun wirklich hier gewollt? Da bemerkte er, dass dessen auffälliger Wagen dem Trixis folgte. Das erschien ihm nun mehr als merkwürdig.
Wenn Rolf Brugger auf Trixi gewartet hatte, warum hatte er sie dann nicht angesprochen? Warum folgte er ihr?
Ganz automatisch bog Daniel auch nach rechts ab, obwohl das nicht die Richtung war, die er einschlagen wollte. War das wieder mal Intuition?
Er behielt Bruggers Wagen im Auge. Es entging ihm aber nicht, dass Trixi wieder rechts abbog und Brugger ebenfalls. Er fluchte leise vor sich hin, als gerade vor ihm die Ampel auf Rot schaltete. Er musste warten, ob es ihm nun passte oder nicht.
Als er endlich starten konnte und ebenfalls in die Seitenstraße einbog, waren beide Wagen nicht mehr zu sehen. Er gab Gas. Wenn er die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritt, konnte er sich immer noch darauf berufen, dass er Arzt im Dienst wäre. Das Schild hatte er ja an der Windschutzscheibe.
Fee würde mich auslachen und mich wieder necken, dachte er, aber er wurde eine ganz merkwürdige Unruhe nicht los.
Er kannte diese Straße. Sie führte ein weites Stück durch Wald und dann zu dem Vorort, in dem die Hollenbergs wohnten.
Weit vor sich sah er endlich den Wagen von Rolf Brugger. Der goldmetallice Lack blinkte unter den Sonnenstrahlen, die jetzt durch die Wolkendecke krochen.
Warum folgt er Trixi? hämmerte es in Daniels Hirn. Merkt sie es nicht? Seinen Wagen muss sie doch wohl kennen. Aber dieser Wagen konnte viel schneller fahren als Trixis Volkswagen.
Daniel konnte die Straße gut überblicken und blieb nun etwas zurück, um zu sehen, wie sich alles weiterentwickelte. Doch dann entging es ihm nicht, dass Bruggers Wagen schneller wurde und zum Überholen ansetzte.
Jetzt war er vor Trixis hellem Volkswagen und bremste. Und Trixi musste auch bremsen, weil Gegenverkehr war. Daniel hatte wieder Gas gegeben. Seine scharfen Augen erfassten die Szene, die sich vor ihm abspielte, noch etwa zweihundert Meter entfernt. Brugger war ausgestiegen. Er stand an Trixis Wagen. Er hatte die Tür aufgerissen und zog sie heraus. Trixi sträubte sich. Alles ging blitzschnell, und fast ebenso schnell war er dann dicht heran. Seine Bremsen kreischten, und in dieses Kreischen mischte sich Trixis Hilferuf.
Daniel sprang aus seinem Wagen, war bei ihr, bevor Brugger es noch recht begriffen hatte. Mit schreckensweiten Augen starrte er dann Dr. Norden an, ließ von Trixi ab, die Dr. Norden in die Arme fiel, sprang zu seinem Wagen zurück und ans Steuer und jagte mit aufheulendem Motor davon.
»Was wollte er, Trixi?«, fragte Daniel atemlos. Er merkte gar nicht, dass er sie mit ihrem Vornamen ansprach.
»Ich weiß es nicht«, stammelte sie. »Ich merkte, dass der Wagen mir folgte. Ich dachte nicht, dass er es wäre, und dann bekam ich es doch mit der Angst. Aber schneller kann ich mit meinem Wagen nicht fahren. Er ist schon ziemlich alt.«
Sie zitterte am ganzen Körper. »Er war so schrecklich. Ich hatte entsetzliche Angst«, flüsterte sie. »Wie kommen Sie hierher?«
»Das erzähle ich Ihnen, wenn ich Sie heimbringe.«
»Aber mein Wagen«, sagte sie stockend.
»Den wird schon niemand wegholen. Ich fahre ihn in einen Seitenweg. Nein, Sie kommen mir nicht mehr ans Steuer. Und allein lasse ich Sie jetzt erst recht nicht.«
Die Autos brausten an ihnen vorbei. Keiner hielt an, keinen kümmerte es, ob wohl etwas passiert wäre. Es wäre wohl auch keiner auf den Gedanken gekommen, Trixi beizustehen, wenn er nicht des Weges gekommen wäre.
Daniel konnte jetzt nicht alles überdenken. Wenn er sich auch über den Grund dieses seltsamen Überfalls nicht klarwerden konnte, so wusste er doch, dass Trixi in großer Gefahr gewesen war.
Blass und zitternd saß sie dann neben ihm. »Wenn Sie nicht gekommen wären«, sagte sie leise, »er hat mich so fest gepackt, er hätte mich nicht mehr losgelassen.«
Sie streifte ihre Ärmel hoch. Daniel sah dunkelrote Druckstellen, die ihm verrieten, wie gewaltsam Rolf Brugger das Mädchen gepackt hatte.
Er hätte mich nicht mehr losgelassen, hatte sie gesagt.
Wollte er Trixi entführen? Wollte man mit solchen Mitteln Hollenberg unter Druck setzen? Oder hatte er gar Schlimmeres vorgehabt?
Trixi liefen jetzt die Tränen über die Wangen. Und nun erzählte ihr Daniel, wie er dazu gekommen war, die gleiche Strecke zu fahren.
»Es kam mir einfach merkwürdig vor, dass er Ihnen folgte, anstatt Sie anzusprechen.«
»Und wenn ich nicht noch bei Michael gewesen wäre, dann hätten Sie es nicht gesehen«, flüsterte sie. »Was wäre dann geschehen? Was wollte er?«
Ja, was hätte dann geschehen können. »Er muss völlig durchgedreht sein«, murmelte Daniel. »Glaubte er denn, dass er Sie gewaltsam …« Er unterbrach sich und griff beruhigend nach ihrer Hand. »Es war schlimm genug für Sie, Trixi«, sagte er leise, »wir wollen uns nicht alles ausmalen. Sie haben die letzten Tage weiß Gott genug mitgemacht.«
»Und Sie waren mein Schutzengel«, sagte sie bebend. »Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich Michael wiedergefunden habe, und jetzt haben Sie mich vor etwas ganz Abscheulichem bewahrt. Er sah aus, als wolle er mich umbringen«, fügte sie schaudernd hinzu.
Sie umzubringen hätte Rolf Brugger nichts genützt, ging es Daniel durch den Sinn. Ihr Gewalt anzutun, wäre für Trixi aber gleichbedeutend gewesen, denn wäre ihr das Leben wohl nichts mehr wert gewesen. Dann hätte sie wohl eher gewünscht, tot zu sein, und nicht nur ihre Familie wäre unglücklich geworden, auch Michael Gordon.
»Mein kleiner Finger hat mich wieder mal nicht im Stich gelassen«, sagte Daniel, sich zu einem scherzhaften Ton zwingend.
»Ihr kleiner Finger?«, fragte Trixi verwirrt.
»Er verrät mir vieles im Voraus. Er hat mir auch verraten, dass mein lieber und hochgeschätzter Kollege Michael Gordon verdammt viel für eine gewisse Trixi übrig hat.«
»Und sie für ihn«, flüsterte Trixi. »Sie haben aber einen schlauen kleinen Finger.«
Er freute sich, dass sie auf seinen Ton einging. »Das habe ich von meinem Vater, Trixi. Er hat mir immer wieder gesagt, dass man auf seine innere Stimme hören soll. Man soll ihr folgen, wenn es einem auch unsinnig vorkommt.«
»Wie soll ich Ihnen nur danken, dass Sie es taten«, flüsterte Trixi.
»Sie glauben ja nicht, wie froh ich bin, dass Ihnen nichts geschehen ist. So, nun sind Sie daheim, und nun versprechen Sie mir, dass Sie nicht mehr allein aus dem Hause gehen.«
»Ich kann es Paps aber nicht sagen. Er würde sich schrecklich aufregen, und Jörg würde Rolf verprügeln.«
»Was wahrlich angebracht wäre. Aber was soll man sich die Hände an einem solchen Kerl schmutzig machen!«
»An einem solchen Kerl, mit dem ich fast verlobt wäre«, sagte Trixi niedergeschlagen.