Nach kurzem Aufenthalt in Frankfurt kehrten wir am 12. September nach Berlin zurück. Der Minister fuhr bald darauf zu seiner nicht unbedenklich erkrankten Gemahlin nach Reinfeld und verweilte dort bis zum 27. Dann reiste er am 1. Oktober mit Abeken und mir wieder nach Baden und am 5. allein nach Biarrits.
Die dienstlichen Sommerreisen hatten für mich die Folge, daß ich angewiesen wurde, wie unterwegs so auch in Berlin, alle Eingänge und Ausgänge der politischen Abteilung täglich zu lesen. Von da ab mußte also jede Bewegung unserer auswärtigen Politik zu meiner Kenntnis kommen.
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Während der auf die Abreise von Schönbrunn folgenden sechs Wochen hatte Bismarck vielfach über Rechbergs erwähnten Wunsch in Betreff des Handelsvertrags sowohl mit unsern Fachministern als mit dem österreichischen Kollegen korrespondiert. Einigung war aber in Berlin auch durch mündliche Besprechungen nicht zu erreichen. Der damalige Leiter der Zollvereinspolitik, Ministerialdirektor Delbrück, erklärte, ins Privatleben zurücktreten zu wollen, wenn durch Wiederaufnahme des Versprechens, nach 12 Jahren über Zolleinigung mit Oesterreich zu verhandeln, die Quelle der zollpolitischen Intrigen der letzten Jahre offengehalten würde. Sein Chef, der Handelsminister, trat für Delbrücks Auffassung ein, ebenso der Finanzminister.
Bismarck drang mit Entschiedenheit darauf, daß zur Erhaltung des einzigen Wiener Vertreters der preußischen Allianz in seiner leitenden Stellung eine Phrase in den Vertrag gesetzt würde, welche, wenn wir unserer Festigkeit vertrauten, praktische Bedeutung nie erhalten könnte. Die Nichtgewährung dieser rein formellen Konzession müsse in Wien den Eindruck machen, als ob uns das Stehen oder Fallen des Grafen Rechberg gleichgültig sei.
Der König entschied für die Fachminister. Dem Vernehmen nach war Sr. Majestät die innere Unwahrheit unannehmbar, welche in dem Versprechen gelegen hätte, über etwas zu verhandeln, was man unter keinen Umständen zu konzedieren fest entschlossen war. Wenn die Stellung des Grafen Rechberg von einer solchen Phrase abhing, so mußte sie schon tief erschüttert sein; und, um ihn vielleicht noch kurze Zeit am Ruder zu halten, wäre der Verlust des unersetzlichen Delbrück ein zu großes Opfer. Der preußische Bevollmächtigte zu den in Prag beabsichtigten Konferenzen über den Handelsvertrag erhielt demnach entsprechende Instruktion.
Rechberg fühlte sich tief gekränkt.
Bismarck erhob noch von Biarrits aus telegraphisch und schriftlich dringende Vorstellungen, um nachträgliche Gewährung der verlangten Konzession zu erreichen, aber vergeblich. Die Preisgebung des Grafen Rechberg gerade in diesem Augenblick hielt er für einen schweren politischen Fehler; an Roon schrieb er aus Biarrits, er müsse sich von aller Verantwortung für die Rückwirkungen dieses Fehlers auf unsere auswärtige Politik lossagen.
Sein nachhaltiger Kummer über den harten Eingriff der Fachminister in die schonungsbedürftigen Beziehungen zu Oesterreich beweist unwiderleglich, wie ernst sein Bestreben war, die obwaltenden Schwierigkeiten friedlich auszugleichen, und wie fern ihm der Gedanke lag, durch einen großen Krieg Gelegenheit zur Lösung des preußischen Verfassungskonflikts suchen zu wollen. Diesen hoffte er durch vieljährige Konsequenz endlich zu annehmbarem Austrage zu bringen. Der unaufhörlich wiederholte Vorwurf des Verfassungsbruches würde, meinte er, sich nach und nach abstumpfen und auf die öffentliche Meinung geringere Wirkung ausüben als zu Anfang des Konflikts.
Rechberg trat Ende Oktober, kurz vor dem endgültigen Abschluß des „Wiener Friedens“ mit Dänemark, in das Privatleben zurück.
Wenn Bismarck von dessen geheimen Eröffnungen an den Erbprinzen von Augustenburg Kenntnis gehabt hätte, würde er den Sturz desselben wohl nicht so schmerzlich bedauert haben. Denn danach mußte ausgeschlossen erscheinen, daß dieser Vertreter der preußischen Allianz unsere für die Einsetzung eines Herzogs in Schleswig-Holstein notwendigerweise zu stellenden Bedingungen hätte befürworten oder gar bei dem Widerstreben der ganzen politischen Welt Wiens zur Annahme bringen können. In Schönbrunn war nun bereits hervorgetreten, daß Oesterreichs Zustimmung zur Annexion nur unter einer für den König unannehmbaren Bedingung erreichbar schien. Kriegerische Lösung der Frage war daher, auch wenn Rechberg im Amte blieb, wahrscheinlich. Wäre es jedoch dessen vermittelnder Thätigkeit gelungen, den Krieg hinauszuschieben, so würde die europäische Lage sich ungünstiger für uns gestaltet haben. Denn vom Herbst 1867 ab waren alle in Mexiko verwendet gewesenen französischen Truppen wieder in Frankreich verfügbar, und dann hätte der Kaiser Napoleon vermutlich ganz anders eingegriffen, als es 1866 geschah.
Ich bin deshalb der Meinung, daß die vom Könige wegen des Handelsvertrages getroffene Entscheidung das Vaterland keinesfalls irgendwie geschädigt, sondern vielleicht vor großem Schaden bewahrt hat.
Der unter der Bezeichnung „Wiener Friede“ bekannte Friedensvertrag mit Dänemark wurde auf der erwähnten Grundlage des Präliminarfriedens vom 1. August in Wien am 30. Oktober abgeschlossen.
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Nach Rückkehr des Ministers von Biarrits (29. Oktober) kam ich in die Lage, bei ihm die Einberufung des Gerichtsassessors a. D. Bucher in das Auswärtige Amt anzuregen.
In den Jahren 1864 bis 1866 erhielt ich fast täglich schriftliche Mitteilungen und politische Ratschläge von Herrn Rudolf Schramm, einem unabhängigen Rheinländer, welcher früher der demokratischen Partei angehört hatte, seit 1862 aber sich öffentlich als Anhänger Bismarcks bekannte und später zum Generalkonsul in Mailand ernannt wurde. Der Minister beauftragte mich, alle Briefe Schramms zu lesen, aber nur ganz ausnahmsweise, nach meinem Ermessen, darüber Vortrag zu halten. Dazu schien mir die im November 1864 eingehende Meldung geeignet, daß Lothar Bucher, mit seinen früheren Parteigenossen gänzlich zerfallen, im Wolffschen Depeschenbureau seinen Lebensunterhalt erwerbe und vielleicht für den auswärtigen Dienst zu gewinnen sein würde.
Ich hatte im Jahre 1848 in Cöslin einen Bruder und den Vater Buchers als sehr gebildete und achtbare Männer kennengelernt. Lothar, der damals in der Nachbarstadt Stolp als Kreisrichter angestellt war, aber viele Jahre bei den Cösliner Gerichten gearbeitet hatte, lernte ich nicht persönlich kennen. Es wurde indes gelegentlich seiner Wahl zur preußischen Nationalversammlung in Cöslin viel von ihm gesprochen. Einstimmig war die Anerkennung seiner ausgezeichneten Fähigkeiten und Kenntnisse wie seines ehrenhaften Charakters; allgemein in Beamtenkreisen das Bedauern, daß er durch seine radikale politische Richtung dem Staatsdienst voraussichtlich entzogen werden würde. Wirklich eines politischen Vergehens angeklagt, ging er 1850 nach England, wo er bis zur allgemeinen Amnestie des Jahres 1860 als Schriftsteller lebte. Seine Korrespondenzen für die Nationalzeitung, namentlich die Aufsehen erregenden Berichte über die ersten beiden Weltausstellungen (1851 in London, 1855 in Paris), erwiesen ungewöhnliches Talent, sich in fremden Regionen zurechtzufinden; seine Schrift über den Parlamentarismus in England aber zeigte einen vorurteilsfreien Geist, der mit dem damals in Deutschland landläufigen Glauben an die Notwendigkeit streng parlamentarischer Regierung gründlich gebrochen hatte.
Das alles trug ich dem Minister vor. Er hörte ruhig zu und rief dann lebhaft: „Bucher ist eine ganz ungewöhnliche Kraft. Ich würde mich freuen, wenn wir ihn gewinnen könnten. Im Abgeordnetenhause habe ich manchmal seinen hohen schmalen Schädel betrachtet und mir gesagt: der Mann gehört ja gar nicht in die Gesellschaft von Dickköpfen, bei denen er jetzt sitzt; der wird wohl einmal zu uns kommen. Seine literarische Thätigkeit habe ich mit Interesse verfolgt. Nun kann man allerdings nicht wissen, wie weit seine Entwickelung jetzt gediehen ist; aber ich halte nicht für gefährlich, ihn in unsre Karten sehen zu lassen. Wir kochen alle mit Wasser und das meiste, was geschieht oder geschehen soll, wird gedruckt. Gesetzt den Fall, er käme als fanatischer Demokrat zu uns, um sich wie ein Wurm in das Staatsgebäude einzubohren und das Ganze in die Luft zu sprengen, so würde er bald einsehen, daß nur er selbst bei dem Versuche zu Grunde gehen müßte. Bliebe die Möglichkeit. Daß Bucher kleine Geheimnisse um kleiner Vorteile willen verriete;