Am andern Morgen spielte ich vieles; Bismarck ging dabei in einem hellgrünen geblümten Schlafrock rauchend auf und ab, die Damen saßen.
Dann erzählte er ausführlich von seinen Gesprächen mit Napoleon; von Bündnisanträgen des Kaisers, die er verschweigen müsse, weil sie sonst wahrscheinlich von Berlin aus nach Wien verraten werden würden; auch von den Mitteln, durch die er das offenbare Annäherungsbedürfnis des Kaisers für unsere Politik auszunutzen versuchen wollte. Er hielt für richtig, wenigstens den Schein, daß wir zu Frankreich in sehr freundschaftlichen und unter Umständen bis zu gemeinsamer Aktion zu entwickelnden Beziehungen ständen, hervorzurufen, um in Wien einen gewissen Druck ausüben zu können und die österreichische Politik von ihrer jetzigen verhängnisvollen Richtung abzulenken.
Im Laufe seiner Erzählungen erwähnte er einen Gedanken des Kaisers, von welchem in den veröffentlichten Briefen an Gerlach und Manteuffel keine Andeutung zu finden ist.
Napoleon hatte gelegentlich geäußert, die Verhältnisse in Frankreich seien doch immer unsicher; es komme vor allem darauf an, Unzufriedenheit in der Armee zu verhüten. „Pour moi l’essentiel c’est toujours l’armée.“ Er wünsche deshalb etwa alle drei Jahre une bonne guerre außerhalb der Grenzen Frankreichs.
Dieser Worte gedachte ich, als drei Jahre nach dem Pariser Frieden der italienische Krieg ausbrach und drei Jahre nach diesem das mexikanische Abenteuer unternommen wurde. Auch kam drei Jahre nach der Rückkehr Bazaines aus Mexiko der deutsche Krieg, welchen der Kaiser jedoch nur widerwillig, dem Drucke anderer Personen folgend, beschloß.
Nach einem Aufenthalt von nur 30 Stunden mußte ich die Rückreise antreten.
Zu Pfingsten 1857 war ich nochmals ein paar Tage in Frankfurt, zusammen mit meinem Freunde Diest. Er wohnte zwar nicht in der Gesandtschaft, war aber von Mittag an immer dort und hatte auch sein schönes Violoncell mitgebracht. Trios und Duos hörte Bismarck rauchend mit ungeteilter Aufmerksamkeit und offenbarem Vergnügen.
In den Morgenstunden spendete er mir wieder mancherlei politische Mitteilungen und las auch den von mir bis in das preußische Postgebiet mitzunehmenden, merkwürdigen Brief an Gerlach vor, in welchem die „Legitimität“ vieler allseitig anerkannter Staatsgewalten analysiert wird. (Gedanken und Erinnerungen S. 175). Meinerseits konnte ich ihm über die politischen Schriften von Gneist manches berichten, was ihn zu interessieren schien.
Am Morgen meiner Abreise (31. Mai), ging er einige Zeit mit mir in dem kleinen sonnigen Garten hinter dem Hause auf und ab und sagte: „Ich habe zurzeit in Berlin wenig Einfluß. Meine Bemühungen, die günstigen Dispositionen des kaiserlichen Frankreich für uns nutzbar zu machen, werden keine Erfolge haben. Ueberhaupt hat der König mir seit zwei Jahren nicht mehr dasselbe Vertrauen geschenkt wie früher. Wollte er mich, wie er mehrmals beabsichtigte, zum Minister machen, so würde er nicht 8 Tage lang mit mir auskommen.
„Ach, glücklich ist nur die Jugend, die immerzu Hurra schreien kann.“
„Meine Erfahrung,“ sagte ich, „ist die entgegengesetzte. Ich bin heute viel fröhlicher wie als junger Mensch. Fühlen Sie nicht auch heute einen höheren Wellenschlag des Lebens wie als Student?“
„Nein!“, erwiderte er; und nach einer kleine Pause: „– ja, wenn man so über das Ganze disponieren könnte! –, aber unter einem Herrn seine Kraft verpuffen, dem man nur mit Hilfe der Religion gehorchen kann …“
Bei diesen Worten waren wir an dem Wagen angekommen, der mich zum Bahnhof bringen sollte.
Bald darauf schrieb ich einem Freunde, der besorgte, ich könnte durch Bismarcks Einfluß in eine extreme Richtung geraten, folgende Worte:
„Beruhige Dich und freue Dich. Bismarck ist jetzt kein Parteimann mehr. Ich habe, wenn ich mit ihm zusammen war, täglich klüger und besser zu werden gefühlt. Die Fülle thatsächlicher Mittheilungen von für mich großem Interesse war noch nicht einmal die Hauptsache; sein unabhängiger, freier Ueberblick über die äußeren und inneren Verhältnisse, seine kühnen Pläne, sein Zoll für Zoll männliches Wesen haben mich in tiefstem Grunde angeregt und erfrischt. Gerade in der Unabhängigkeit des Denkens und Wollens fühlte ich mich neu gestärkt durch ihn.“
* * *
Im Sommer dieses Jahres (1857) wurde ich als Hilfsarbeiter in das Ministerium des Innern berufen und im Dezember an das Oberpräsidium zu Breslau versetzt. Dadurch war die Möglichkeit häufiger Fahrten nach Frankfurt ausgeschlossen; nicht nur der weiteren Entfernung wegen, sondern auch weil die damals wesentlich in die Hand des Oberpräsidialrats gelegte Verwaltung einer großen Provinz andere Kraftanstrengungen erforderte als die Mitgliedschaft eines Regierungskollegiums.
Am 20. August 1857 schrieb Frau von Bismarck aus Stolpmünde:
… „Die heißbegehrte schwedische Reise ist so vollkommen gelungen, daß Bismarck jetzt die heitersten, entzücktesten Briefe schreibt aus schwedischen und dänischen Schlössern und Dörfern mit recht absonderlichen Namen. … Ich bin glücklich über sein Vergnügen, das aus allen Briefen hervorleuchtet: Jagdlust und Jagderfolge, Naturschwärmerei, Gesundheitsversicherung – alles zusammen klingt herrlich und erfreulich. Es gefällt ihm so wundervoll in diesen nordischen Sphären, daß er fürs Erste und Zweite und Dritte noch an gar keine Rückkehr denkt.“
Am 17. August aber wurden die Jagdfreuden unterbrochen durch einen Unfall, welcher für Bismarck die Ursache langwieriger Leiden werden sollte. Er fiel auf eine scharfe Felskante und erlitt eine Verletzung am linken Schienbein6, welche ausheilen zu lassen ihm die Geduld fehlte. Nach nur eintägiger Pause fuhr er fort, in Schweden und später in Kurland zu jagen. Die schlecht geheilte Wunde wurde im Juni 1859 in Petersburg durch ein vergiftetes Pflaster derartig inficiert, daß zwei lebensgefährliche Krankheiten (1859 in Berlin und 1860 in Hohendorf) sich daraus entwickelten. Auch in späteren Jahren sind nach Ansicht seines langjährigen Arztes, Dr. Struck, aus derselben Ursache – einer zerstörten Ader des linken Beins – mehrmals Venenentzündungen und andere gefährliche Erkrankungen entstanden, welche ihn zu dem Gefühle vollkräftiger Gesundheit nur ausnahmsweise in gewissen Zwischenräumen haben kommen lassen. Eine erhöhte Reizbarkeit des ganzen Nervensystems war die natürliche Folge dieser Störungen.
Im Oktober 1857 wurde der Prinz von Preußen mit der Stellvertretung des schwer erkrankten Königs beauftragt.
Frau von Bismarck schrieb aus Frankfurt am 27. Dezember 1857: … „Unsre Zukunft ist augenblicklich wieder ’mal ziemlich unsicher nach allen Richtungen hin, aber Bismarck ist guter Laune und so bin ich’s auch – habe ja auch alle Ursache dazu, besonders wenn ich in die strahlenden Weihnachtsgesichtchen meiner drei Herzenskleinodien sehe – die meine Seele mit ewigem Lobgesang gegen Gott erfüllen. … Er wandelt eben ganz lang und grün durch alle Zimmer, läßt Sie herzlich grüßen und hat auf meine Frage um mögliche Bestellung an Sie keine Antwort als die Bitte, Sie möchten Rübezahl grüßen, wenn Sie ihn sähen, das wäre der einzige Bekannte, den er in Schlesien hätte.“
Im Herbst 1858 ging Bismarck nicht auf Urlaub, sondern blieb in Frankfurt, weil der in Baden weilende Prinz von Preußen mehrfach seinen Rat verlangte. Im Oktober kam es endlich infolge der andauernden Krankheit des Königs zur Einsetzung der selbständigen Regentschaft des Prinzen. Er berief das Ministerium Hohenzollern-Auerswald, das von der liberalen Mehrheit der Gebildeten mit Jubel begrüßt wurde. Neuwahlen zum Abgeordnetenhause ergaben eine bedeutende ministerielle Majorität von gemäßigt liberaler Färbung.
In einem Briefe an Frau von Bismarck erwähnte ich meine Zweifel darüber, ob das Ministerium der „neuen Aera“ – wie es damals genannt wurde – die übergroßen Erwartungen der politischen Welt würde erfüllen können. Die Antwort lautete (Dezember 1858):
„Was den politischen Theil Ihres Briefes betrifft, den ich Otto vorgelesen, so läßt er Ihnen sagen, Ihre und seine Wege wären dieselben, sogar bis auf das Gras, welches daneben wüchse.“
Die Aeußerung scheint mir so charakteristisch,