Die Newa ist der breiteste Strom, den ich kenne. Im nahen Ladogasee völlig abgeklärt, hat sie keine trübenden Zuflüsse aufzunehmen und ist durchsichtig bis zu bedeutender Tiefe. Sie liefert für ganz Petersburg das Trinkwasser. Bismarck sprach mit Lebhaftigkeit von der Schönheit des großen Stromes, über welche er sich jeden Tag freue.
Die von mehreren Newa-Armen gebildeten Inseln enthalten Flächen von einigen Quadratmeilen und sind ganz von Parkanlagen und Landhäusern bedeckt. Wäldchen von Tannen, stark entwickelten Birken, Erlen und Ahornen umkränzen weite Rasenflächen.
Die Nachmittagssonne war so warm, daß Bismarck den Sommerüberrock auszog und auf den linken Arm nahm. Er erlaubte mir nicht, ihm diese kleine Last abzunehmen.
Das Wetter blieb schön in der ganzen Woche meines Petersburger Aufenthaltes und der Ausflug nach den Inseln wurde daher fast täglich wiederholt.
Es war eine gesellschaftlich stille Zeit; der Kaiser in der Krim, die Großfürsten und fast die ganze vornehme Welt auf dem Lande. Fürst Gortschakoff aber wurde durch die Geschäfte in der Stadt zurückgehalten. Als er eines Tages Bismarck besuchte, bat ihn dieser, den Rückweg durch den Damensalon zu nehmen; dort würde er ihm einen heimatlichen Freund vorstellen, der doch in Berlin müsse erzählen können, daß er den berühmten Kanzler gesehen habe. Darauf beehrte mich der Fürst mit einem längeren Gespräche in reinstem Deutsch.
Den Altreichskanzler Grafen Nesselrode, welcher mit seiner schönen Tochter auf einer der Inseln wohnte, durfte ich als Begleiter von Frau von Bismarck besuchen.
Alles, was ich in Petersburg sah, interessierte mich so lebhaft, daß mir ein Abstecher nach Moskau empfohlen wurde. Eine Zeile von Bismarcks Hand an den Intendanten der dortigen kaiserlichen Schlösser, Fürsten Obolenski, bewirkte, daß dieser würdige Herr mich zwei volle Tage, vom frühen Morgen bis Mitternacht, in seinem Wagen umherfuhr und wie einen Verwandten bewirtete. Ich wurde tief berührt von dem Zauber echt russischer Gastfreundschaft, dank der persönlichen Verehrung des Fürsten für unseren Gesandten.
Die letzten Petersburger Tage brachten mir einige politische Aeußerungen Bismarcks.
„Es war“, sagte er, „die Partei des ‚Preußischen Wochenblattes‘, die mit der Regentschaft ans Ruder kam. Von diesen Herren kannte ich Albert Pourtales etwas näher, schon von der Schule her. Er und sein Bruder wurden dort die „Pourtaliden“ genannt. Ich traf ihn einmal im Januar 1859 und sagte ihm: ‚Ihr scheint zu glauben, daß Ihr hexen könnt. Ihr meint, durch die jetzige, freudig erregte Stimmung der öffentlichen Meinung würden alle Schwierigkeiten beseitigt, alle Fragen gelöst werden. Aber der Rausch wird bald verfliegen und dann wird es darauf ankommen, ob einer von Euren Ministern etwas kann. Ich glaube das nicht; ich fürchte, weder den inneren noch den äußeren Schwierigkeiten werdet Ihr gewachsen sein.‘
„Schneller, als ich dachte, hat sich das erwiesen. Die auswärtige Politik während des italienischen Krieges war schwankend und schwach. Ich dachte damals noch, daß ich vielleicht einigen Einfluß ausüben könnte, und aus alter Frankfurter Gewohnheit schrieb ich mir die Finger ab, um zu verhindern, daß wir ohne Sicherheit ausreichender Entschädigung wie Vasallen Oesterreichs in den Krieg einträten. Dennoch wurden fünf Armeekorps mobilgemacht; und vielleicht hat nur der übereilte Vertrag von Villafranca uns davor bewahrt, steuerlos in einen unabsehbaren französischen Krieg hineinzutreiben, dessen Früchte, wenn wir siegten, Oesterreich und die Mittelstaaten uns verkümmert haben würden.
„Und erst im Innern! Das Ministerium verfügte über eine große Majorität, denn die meisten Abgeordneten waren von seiner Farbe. Nun war ja schon in der ersten Kundgebung des Prinzregenten erwähnt, daß Verbesserungen der bestehenden wohlfeilen Heeresverfassung unerläßlich sein würden, damit die Armee im entscheidenden Augenblicke sich bewähren könnte. Zu Anfang dieses Jahres werden endlich die Reorganisationspläne vorgelegt. Alles kommt darauf an, sie durchzusetzen; aber die Minister üben keinen Einfluß auf ihre Freunde. Die Sache wird in der Kommission abgelehnt und gar nicht ins Plenum gebracht. Das war ein übler Mißerfolg; denn wir brauchen die Verstärkung und Verjüngung der Armee so nötig wie das tägliche Brot. Roon, der dem Hause noch unbekannt war, konnte die Sache nicht machen. Aber die alten Parteiführer Auerswald und Schwerin hätten ihre Leute wie Vincke und Stavenhagen zur Vernunft bringen müssen. Das haben sie nicht gekonnt; es fehlte ihnen die nötige Energie.
„Merkwürdig ist jetzt die Entwickelung der Dinge in Italien. Der Kaiser Napoleon scheint durch Garibaldis Erfolge und den Zusammenbruch des Königreichs Neapel wirklich überrascht worden zu sein. Sein hiesiger Botschafter, Graf Montebello sagte kürzlich: Nous voyons monter cela comme la marée et nous ne savons que faire. Voilà l’impuissance des hommes vis-a-vis des événements.“
Als ich endlich abreisen mußte, begleitete mein gütiger Wirt mich zum Bahnhof und sagte dort: „Sehen Sie nur in den Wartesälen die Menge eigentümlicher Gesichter, Bärte und Trachten. Geschickte Maler sollten herkommen, um Studien zu machen.“
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Frau von Bismarck schrieb am 17. September:
… „Bismarck kam ganz melancholisch von der Eisenbahn zurück mit den Worten: ‚– er nimmt jedes Mal ein großes Stück Heimath mit – und jetzt will ich sehr viel arbeiten, sonst bange ich mich zu sehr nach ihm.‘“ …
Petersburg 12. Oktober 1860.
… „Im Alexander-Newsky-Kloster gab’s eine Gedächtnißfeier mit sehr viel Gepränge. Unzählige Popen, kaiserliche Familie, diplomatisches Corps, sehr viel Militär, besonders Tscherkessen, und hohe Würdenträger aller Art – es funkelte und blitzte, wohin man sah. Die Kloster- und Hof-Sänger producierten prachtvolle Stimmen, die aber doch nicht an unsern Berliner Domchor heranreichen. Bismarck erschien als weißer Rittmeister, der zu meiner Freude über alle Collegen hinausragte und alle ausstach mit seinem vornehmen Anstand. Alle standen krumm und schief mit der Zeit – er allein sah aus, wie ein kaiserlicher Zwillingsbruder – und ich hatte mein stilles Vergnügen daran von meinem Versteck aus als Zuschauerin …“
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Anfang November besuchte der Prinzregent den Kaiser Alexander in Warschau. Natürlich war auch Bismarck zugegen. Auf der Rückreise hielt der königliche Zug in Breslau, wo die Generalität und die Spitzen der Behörden versammelt waren und ich als Begleiter des Oberpräsidenten zu erscheinen hatte. Bismarck sah mich von Weitem und bahnte sich den Weg zu mir durch die Herren Generale, um die ganze Zeit des Aufenthalts mit mir zu sprechen. Er sagte: „Ich reite noch immer auf den Inseln, aber jetzt fehlt mir leider die Gesellschaft. Sie sollten bald einmal wiederkommen, um sich Petersburg in der Winterpracht anzusehen.“ Von Politik natürlich kein Wort.
Ein Bekannter drängte sich mit der Frage heran: „Nun, was bringen Sie uns aus Warschau?“ Er antwortete: „Schlechte Nachrichten. Das Befinden der Kaiserin Mutter hat sich in bedenklicher Weise verschlimmert.“
Am 24. November schrieb Frau von Bismarck aus Petersburg:
… „Der Tod der Kaiserin Mutter ist uns recht nahegegangen, weil sie Bismarcks große Gönnerin, ich möchte sagen, Freundin gewesen. Wir gehen nun 6 Monate wie die. kohlschwarzen Raben einher, bis an die Zähne verhüllt, leben still wie die Einsiedler und ich hoffe, Bismarcks Nerven sollen sich recht stärken in der stillen Zeit und unser häusliches Leben soll recht angenehm werden …“
2. Februar 1861.
… „Am Heiligen Abend kam ein intimster Universitätsfreund, Graf Alexander Keyserling (Bruder des Rautenburger), den eine 23-jährige Trennung ohne briefliche Brücken kein Haar breit von Bismarck entfremdet, was mir viele Freude gemacht. Sie klinkten in die alten Verhältnisse mit einer harmlosen Heiterkeit und warmen Herzlichkeit ein, wie wenn sie nie getrennt gewesen. Er lebt auf dem Lande in Esthland …
… „Vor einigen Tagen wurde ich zu der wundervollen Großfürstin Helene befohlen. Das Palais ist einzig behaglich, so wie keins wieder – schon auf der prächtigen Treppe weht’s einen wohlthuend an, in dem Hauptsalon aber ist’s so schön, daß man nie fort möchte. Und Helene, die