„Eben.“ Der Schamane atmete tief durch. „Wir müssen abwarten. Aber nicht mehr lange. Khomal wird längst erfahren haben, dass Aigonn und mir die Flucht geglückt ist. Es wird für die Eichenleute eine Leichtigkeit sein, uns alle hier in der Siedlung gefangen zu nehmen und zu töten.“
Eine bedrückende Stille hing im Raum. Jeder war sich seiner Lage bewusst, doch das Gefühl, es nun ausgesprochen zu wissen, war noch einmal etwas völlig anderes. Keiner von ihnen war Unfreiheit und Tod so nahe gewesen wie in diesem Moment – vielleicht nicht einmal während der Schlacht. Denn viele der hier Anwesenden waren früh und schnell mit ihren Kindern geflohen und erst später zurückgekehrt. Man hörte Widerstreben in ihrer Stimme, als nun wieder Brals Mutter einwarf: „Heißt das, wir sollten die Siedlung verlassen?“
„Vielleicht ist es sinnvoll“, antwortete Rowilan. „Nicht heute, aber bald. Bevor wir gegen die Eichenleute vorrücken, werden wir unser gesamtes Hab und Gut sicher irgendwo in der Nähe verbergen – in den Wäldern, weiter südlich am Ufer der Rur …“
Aigonn erwartete Einspruch, doch es folgte keiner. Er selbst zwang sich lange dazu – entgegen jeglicher schmerzstillender Kräuter, die seinen Geist umarmten – zu diesem Thema Stellung zu beziehen. Aber erfolglos. Fragend blickte er zu dem Schamanen, als ob dieser alle Fragen der Welt beantworten könnte. Rowilan aber sagte abschließend fast zu sich selbst: „Ich sollte nicht der sein, der hier Schlachtpläne schmiedet. So etwas habe ich nicht gelernt. Es wird Zeit, das der alte Rat unter Behlenos wieder zusammenkommt!“
Die wenigsten hatten zu dieser Versammlung noch etwas beizutragen. Als sich die Gruppe Menschen beinahe aufgelöst hatte, setzte Aigonn sich neben Rowilan auf, streckte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht und stellte an den Schamanen eine unausgesprochene Frage. Dieser erahnte seine Gedanken, erwiderte aber: „Ich merke, dass … Anation …“ Lhenias Name schien ihm auf der Zunge zu liegen, doch er zwang sich dazu, Aigonns Neuinterpretation zu verwenden. „… dir sehr viel bedeutet. Aber ich kann ihr vor den anderen keinen Vorrang geben.“
Anation bedeutete ihm viel? Aigonn hatte sich diese Frage, in solcher Direktheit, nie gestellt. Statt sich damit aber auseinander zu setzen, schob er den Gedanken beiseite und hakte noch einmal nach: „Du bist also der Heerführer?“
„Wenn Aehrel diese Aufgabe nicht kurzfristig für sich beansprucht, werde ich es wohl sein, ja. Obwohl es mir lieber wäre, er würde es tun. Mir ist eine Verantwortung unangenehm, wenn ich von der Materie im Grunde keine Ahnung habe!“
„Es kann dir nicht schlechter ergehen als Behlenos. Und selbst er ist damit zum Fürst geworden – die Götter allein wissen warum.“
„Oh, du solltest ihn nicht unterschätzen!“ Rowilan lächelte schelmisch. „Behlenos hat Qualitäten, die dir auf den ersten Blick gar nicht auffallen mögen!“
„Auf den zweihundertsten bisher aber auch nicht, muss ich gestehen. Zumindest, was die Kriegsführung betrifft.“
Mit diesen Worten erhob Aigonn sich und verließ kurz darauf zusammen mit Rowilan das Haus. Die Sonne näherte sich bereits orange glühend dem Horizont, sodass das Licht eine Kraft in sich trug, als wollte es die ganze Welt verbrennen. Für Augenblicke starrte der Schamane versonnen nach Westen, bevor er zu Aigonn sagte: „Ich bin froh, dass du mir vertraust! Es ist gut zu wissen, an Tagen wie diesen nicht allein zu sein!“
Sah Rowilan ihn bereits als seinen Gefährten? Aigonn wollte dem Frieden, der diesem Gedanken innelag, nicht so recht trauen. Alte Skepsis stieg in ihm hoch, während er den Schamanen vor sich beäugte. Doch als ihre Blicke sich trafen, fühlte er, dass es an der Zeit war, endlich abzuschließen – mit Verblendung, der Vergangenheit, so vielen namenlosen Dingen, über die Aigonn nicht nachdenken wollte. Ganz gleich, ob Rowilan seine Gedanken erahnt hatte. Der Schamane lächelte warm, als er Aigonn die Hand auf die Schulter legte und sagte: „Ruh dich morgen noch einmal aus. Vielleicht begegnen wir übermorgen bereits den Göttern!“
„Glaubst du, wir werden scheitern?“
„Du könntest Gewissheit bringen – wenigstens mir. Immerhin erzählen die Legenden der Alten, dass ihre Seher nicht nur die Geister der Anderen Welt sahen, sondern auch von den Göttern selbst ihr eigenes Schicksal erfuhren. Vielleicht willst du es versuchen?“ Diese Frage hatte Aigonn nicht erwartet und damit Rowilans Vermutung bestätigt. Überrascht zog er die Augenbrauen in die Höhe, bevor er fragte: „Glaubst du, dass ich dazu in der Lage bin?“
Der Schamane sah ihn einen Moment lang an, erst offen, dann nachdenklich. Als seine Gedanken gänzlich in seinem Geist und der Vergangenheit verloren schienen, trat ein Schatten auf sein Gesicht, der Aigonn eine dumpfe Vorahnung brachte. Ein bekannter Name schwebte zwischen ihnen beiden. Das Lächeln war verschwunden, als Rowilan antwortete: „In der Lage vielleicht. Aber solange du es nicht spüren kannst, bist du auch nicht bereit dafür.“
Abschied
Irgendwo kamen Stimmen aus der Dunkelheit. Aigonn wollte sich umdrehen, sich auf das andere Ohr legen und sie damit zum Schweigen bringen. Doch er blieb ohne Erfolg. Erstickte, panische Schreie hallten in die Schwärze hinaus – ohne erkennbares Ziel, ohne Grund, aber mit einer Inbrunst, dass es schmerzte.
Plötzlich schreckte die Wirklichkeit ihn aus dem Schlaf. Er wirbelte aus seinen Fellen, versuchte, sich auf die Beine zu rappeln, während er stolpernd aus seinem Schlaflager in den Raum hinausstürzte – bis er stehen blieb, um in die Realität zurückzufinden. Im ersten Moment war Aigonn vollkommen orientierungslos. Erschrocken starrte er in eine formlose Schwärze, die nur an einer einzigen Stelle durch ein rotes Glimmen durchdrungen wurde. Die Schreie hatten nicht aufgehört, kamen von irgendwoher und waren nun so nah, dass er selbst es hätte sein können.
Heftig atmend zwang Aigonn sich dazu, innezuhalten und nachzudenken. Wo war er? Bei Aehrel! Dies war Aehrels Haus. Er stand neben seinem Schlaflager unweit der Feuerstelle – und die Person, die schrie, war seine Mutter.
Ohne zu zögern, wirbelte er herum, stürzte in die Richtung, wo er das Schlaflager seiner Mutter vermutete. Es schepperte heftig, als er den Zwischenraum zwischen den Regalen verfehlte, Tontöpfe zu Boden fielen. Doch es war Aigonn egal. Nun, da sich seine Augen an das dämmrige Zwielicht gewöhnt hatten, erkannte er bald Moribes Gestalt. Sie lag starr am Boden, unfähig, sich zu bewegen, doch die Laute, die ihrem Mund entkamen, schienen in ihrer Gewalt nicht von dieser Welt zu kommen. Als versuchte irgendjemand, sie mit einem Messer zu schlachten, brüllte sie voller Schmerz ohne logischen Grund. Aigonn stürzte neben seiner Mutter auf die Knie, schlug ihr sacht auf die Wange, in der Hoffnung, ihr Bewusstsein ein Stück weit in die Realität zu holen. Doch er blieb ohne Erfolg.
Die Anstrengung hatte Moribes Gesicht rot anlaufen lassen – dies erkannte Aigonn selbst in dem Halbdunkel. Sie hatte ihre Augen so weit aufgerissen, dass die Augäpfel aus ihren Höhlen zu fallen schienen. Eine unsägliche Angst hatte sich in sie eingebrannt. Nirgendwo war erkenntlich, was sie ausgelöst hatte. Aigonn starrte auf sie herab, mit aller Gewalt und aller Konzentration, getrieben von der Möglichkeit, vielleicht in ihren Kopf, ihre Gedanken sehen zu können. Doch dazu war er nicht in der Lage. Er konnte seiner Mutter nicht helfen. Mit nichts, nicht mit Schütteln, Rütteln, Ansprechen, Einreden. Sie war nicht mehr Teil dieser Welt, sondern schien mit jedem Augenblick mehr verloren zu gehen.
„AEHREL!“
Es kam keine Antwort aus der Dunkelheit, auch nicht, als er noch einmal nach seinem Onkel brüllte. Er war allein. Diese Tatsache fraß jegliche Hoffnung, die ihn standhaft gemacht hatte. Seine Hände zitterten, als hätte der Winter in diesem Haus Einzug gehalten. Er konnte nichts tun.
Plötzlich kam Aigonn ein Gedanke. Ohne auf Funken zu achten, die wie ein Schneegestöber durch das Haus flogen, warf er zwei dürre, trockene Holzscheite auf die Feuerstelle, die augenblicklich aufloderten und ein wenig Helligkeit spendeten. Aehrel hatte sich von Rowilan zahlreiche Rezepturen für Kräuter- und Pflanzenmischungen geben lassen, die er noch immer in seinem Haus für Notfälle aufbewahrte – so hatte sein Onkel es Aigonn erzählt. Vielleicht würde es etwas geben, das wenigstens ihren Geist zur Ruhe bringen