Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle. Astrid Rauner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Rauner
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Von keltischer Götterdämmerung
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783862827732
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Auge, zusammen mit Derona. Eine Mutter und ihre Tochter, kaum zwölf Jahre alt. Die namenlosen Gefühle, die damit verbunden waren, schmerzten Aigonn, dass er glaubte, auseinander zu brechen. Doch für die Gewissheit, die in allzu naher Zukunft lag, war es bisher noch nicht an der Zeit.

      „Aigonn … Derona hat es gewusst. Sie wusste, wer die Tochter des Sängers ermordet hat. Sie selber hat es ihr gezeigt, aber Derona wollte es mir nicht sagen. Sie hat gesagt, dass es niemand wissen darf …“

      Moribes Blick flackerte. Aigonn fühlte ihren flachen, warmen Atem auf seiner Haut, wie er immer schwächer wurde. Er verstand nichts von dem, was sie gesagt hatte, auch wenn er wusste, dass es wichtig war.

      „Wer ist die Tochter des Sängers?“, fragte er. Doch Moribe war nicht mehr im Stande dazu, dieses Thema weiterzuführen. Mit müden Augen sah sie ihn an, lange, eindringlich, voller Kummer – und in diesem Moment wusste er, dass sie wieder die alte war. Die, die einmal seine Mutter gewesen war.

      „Verzeih mir, Aigonn! Verzeih mir, dass ich nicht für dich und Efoh da war!“

      Er wollte etwas antworten, doch die Worte kamen nicht über seine Lippen. Als er die Hand seiner Mutter neben sich spürte, die zitternd nach seiner tastete, nahm er sie, hielt sie so sachte, als ob sie in seinen Händen zerfallen würde. Binnen der vergangenen Tage war sie unendlich gealtert – das sah er erst jetzt. Wie bei einer Greisin wirkte ihr ausgemergeltes Gesicht mit den hohlen Wangen, das von schlohweißen Haaren umgeben war. Sie hatte kaum mehr Fleisch auf den Rippen, wirkte mehr wie ein Skelett mit Haut.

      Dann sprach Moribe weiter, immer leiser: „Glaube niemals, dass ich dich und deinen Bruder verlasse! Das werde ich nicht. Wenn du willst, wirst du mich sehen, das hast du schon früher getan!“ Bei diesen Worten lächelte sie geheimnisvoll, bevor sie langsam die Augen schloss. „Du wirst mich immer sehen können!“ Einen Augenblick lang fühlte Aigonn ihren Atem auf seiner Haut, den Lebenshauch, das letzte, was zurückblieb, wenn die Zeit eines Lebens vollendet war. Dann verflog er. Aigonn konnte ihr Herz wie Trommeln in seinen Ohren hören, bevor es schwächer wurde. Der letzte Schlag. Verklungen. Aus.

      Aigonn war versteinert. Sein Kopf arbeitete gegen ihn, wollte ihn dazu zwingen, zu begreifen. Doch er ließ es nicht zu. In seinem Kopf stand die Zeit still. Er vergaß seinen eigenen Atem, bis Rowilan ihn behutsam an der Schulter fasste und wider Willen kam, was er nicht hören wollte.

      „Aigonn, sie ist tot.“

      „Nein.“ Es lag keine Überzeugung in diesem Wort, nur der Wille, etwas Unbegreifliches mit allen Mitteln zu ändern. Doch es würde zwecklos sein, das wusste er, auch wenn er sich in diesem Moment daran nicht erinnern wollte. Der Trotz war stärker als das Begreifen. Er erfüllte jede Ritze in Aigonns Kopf und machte ihn unverwundbar gegen die Realität.

      „Aigonn!“

      „NEIN!“ Was machte es für einen Sinn zu reden? Der Geist seiner Mutter leuchtete silbrig neben ihrem Körper, der mit jedem Moment mehr die Wärme des Lebens verlor. Voll Trauer und Mitleid sah sie ihn an. Er wusste, dass sie ihm helfen wollte. Doch in diesem Moment war dies kein Trost. Sie würde fort sein, bald schon. Sie würde in der Anderen Welt verschwinden und als eine Person wiedergeboren werden, der er wohl niemals wieder begegnen würde. Sie war fort. Schon jetzt. Es war gewiss. Gewiss.

      Der Trotz verlor den Kampf gegen die Wirklichkeit. Mit einem Krampf brachen die Tränen aus seinen Augen hervor, als Aigonn alle Trauer aus sich herausschrie und sich auf die Beine rappelte. Schreiend stolperte er aus dem Haus heraus. Ohne auf die Einrichtung seines Onkels zu achten, schlug er gegen Regale, gegen die Tür. Die übrigen Dorfbewohner, die noch immer draußen in der Dunkelheit gewartet hatten, wichen ihm erschrocken aus, während er in die Nacht hinausrannte.

      Die Trauer hatte sich in Wut verwandelt – Wut darüber, dass er so unfähig war. Dass er nichts hatte tun können. Dass er überhaupt nichts tun konnte. Eine halb abgebrannte Hauswand wurde sein Opfer. Er schlug und trat so lange auf das Stroh-Lehm-Geflecht ein, bis es nachgab und in einer Wolke aus Staub zu Boden sackte. Doch es änderte nichts. Die Gewissheit brannte in ihm, auf seiner Zunge. Und mit seinem Zorn verschwand auch die Kraft, die ihn auf den Beinen gehalten hatte.

      Weinend stürzte Aigonn neben dem Schutthaufen zu Boden. All seine sinnlosen Hoffnungen waren zerschlagen. Er hatte immer geglaubt, seine Mutter würde eines Tages wieder aus ihrer eigenen Welt erwachen, um mit ihm und Efoh ihren Lebensabend zu verbringen. So hätte es nicht enden sollen. Nicht so!

      Wie ein kleines Kind saß er da, weinte über seine Hilflosigkeit, bis der dunkelste Zeitpunkt der Nacht vorüberging und die Dämmerung die Schwärze durchbrach. Aigonn brauchte diesen Augenblick, um zu begreifen. Jeder Gedanke schmerzte wie ein Messerstich. Es war kaum zu ertragen, für ihn, für Efoh – der nicht einmal hatte dabei sein können, als ihrer beider Mutter zum letzten Mal die wurde, die sie einmal gewesen war. Dabei hatte er sich mit dem Gedanken schon so lange abgefunden: Kein Mensch drehte die Zeit zurück. Kein Mensch.

      Der Bote

      Die dünne Rauchsäule verschmolz mit den wenigen Federwolken, die sich den Himmel noch mit der Morgenröte teilten. Der strenge, würzige Duft der Kräuter brannte Aigonn in der Nase, wärmte aber für einen kurzen Moment die kalte Einsamkeit, die sich wie ein Kokon um ihn zusammengezogen hatte.

      Der Scheiterhaufen war beinahe heruntergebrannt. Nur noch wenige Holzscheite waren zwischen der vielen Asche zu erkennen, die sich mit dem gemischt hatte, was einst Aigonns Mutter gewesen war. Er selbst starrte leer über die Totenaue. Die leise, monotone Melodie ihrer Ahnen, mit welcher Rowilan Moribes Seele in die Andere Welt geleitete, hatte auf eine gewisse Weise etwas Tröstendes. Ihr haftete der Gedanke an, dass sich alles in diesem Leben wiederholte, von Monaten über Jahre, Jahre über Jahrzehnte, Jahrzehnte über Generationen. Schon seine Ahnen hatten auf dieselbe Weise getrauert, vor so langer Zeit schon.

      Als Rowilans Lied verklungen war, starrten beide Männer einen Augenblick lang in den Sonnenaufgang. Es waren viele der Überlebenden des Dorfes gekommen, als der Scheiterhaufen entzündet worden war. Nun aber, eine lange Zeitspanne später, waren sie beide allein mit der Asche und ihren Erinnerungen.

      Aigonns Gedanken waren weit von der Totenaue entfernt, als er den Schamanen fragte: „Warum verbrennen wir die Toten eigentlich? Das haben wir früher nie getan.“

      „Wenn es viele Tote gibt, können wir nicht immer für jeden einzelnen ein eigenes Grab ausheben. Das ist leider der Geschmack des Krieges.“

      „Mutter ist nicht im Krieg gestorben.“

      „Behlenos hat mir davon erzählt, dass die Völker weiter im Süden die meisten ihrer Toten verbrennen. Nur die Würdigsten werden in einem Grabhügel bestattet, damit ihr Geist länger bei den Lebenden bleibt und diesen beisteht. Vielleicht sollten wir in Zukunft genauso verfahren.“

      Aigonns Gesichtsausdruck verriet, dass ihm dieser Gedanke nicht gefiel: „Nun ja, bald ist auf der Totenaue kein Platz mehr. Aber was ist mit den Erinnerungen? Wenn wir sie mit der Asche von Holz mischen und nur in einer Urne ins Erdreich geben, werden sie schwer zu finden sein. Wenn die Urne zerstört wird, sind sie vielleicht für immer verschwunden.“

      Rowilan schmunzelte herausfordernd. „Wer wird denn kommen, um die Erinnerungen zu suchen? Die Gräber gehören den Toten, Aigonn. Keiner der Lebenden hat dort etwas zu suchen – auch du nicht. Betrachte das, was du … für … Derona getan hast, als einmalige Ausnahme.“

      Darauf kam keine Antwort mehr. Während die Nebelschwaden über die Wiese krochen – vom See aus, der still und friedlich dalag –, wanderte die Morgensonne weiter, wurde kräftiger, bis sie das sommerliche Blattwerk des nahen Waldes fast unwirklich strahlen ließ. Der Höhepunkt des Sonnenjahres stand kurz bevor. In vier Tagen schon würden die Nächte wieder länger werden.

      Als Aigonn erneut zu Rowilan sah, war auch der Schamane in seinen Gedanken verloren. Die Falten in seiner Stirn verrieten, dass es hinter seiner Schädeldecke arbeitete. Aigonn erriet die Gedanken, als er fragte: „Wer ist die Tochter des Sängers?“

      Der Schamane ließ sich Zeit für eine Antwort. Er sah Aigonn