Rowilan hatte bereits einen kleinen Bronzekessel voll Wasser über das Feuer gehängt, als er sich neben seinem eigenen Schlaflager niederließ und behutsam begann, den notdürftigen Verband von Aigonns Wunde zu lösen. Dieser gab sich Mühe, standhaft zu bleiben – egal, wie empfindlich der Stoff am trocknenden Wundwasser und geronnenen Blut klebte. Als er diese Tortur endlich überstanden hatte, wusch der Schamane die Wunde aus, bevor er sie eingängig musterte.
„Du hast Glück gehabt“, resümierte er. „Die Pfeilspitze ist sauber und gerade in dein Fleisch eingedrungen. Bis jetzt hat die Wunde sich nicht entzündet. Mit ein bisschen Nachhilfe wird es wohl auch nicht mehr geschehen.“
Damit griff er nach einer Schale, wo er bereits mit Wasser versetzte, getrocknete Kräuter vorbereitet hatte, die er nun zusammen mit einigen frischen Blättern – Aigonn konnte nicht sagen, um welche Pflanze es sich handelte – zerstampfte. Als der Schamane die fertige Paste gerade auf die Wunde auftragen wollte, wurde die Tür des Hauses geöffnet und Aigonn hörte einige schwere Schritte, die über die Grasmatten näher kamen.
„Rowilan?“ Es war Aehrel.
„Aehrel? Ja, ich bin hier.“ Rowilan wandte sich um und wartete, bis der Krieger an dem großen Regal vorbeigelaufen war, das das Nachtlager des Schamanen vor unerwarteten Blicken oder Gästen verborgen hielt. Aigonn zog beeindruckt die Augenbrauen in die Höhe, als die Gestalt seines Onkels neben dem Schlaflager erschien. Eine Brandwunde, die nur mit einer Salbe bestrichen war, bedeckte die Hälfte seines Halses, einen Teil des Gesichts und schien noch bis weit unter sein Leinenhemd zu reichen. Er hinkte, zog das rechte Bein nach und trug zu allem Überfluss an der Stelle seines Kopfes, wo sich eigentlich das rechte Ohr befinden sollte, lediglich einen schmutzigen Verband, der scheinbar eine stark nässende Wunde verdeckte.
Trotz der Verletzungen war Aehrels Miene unerschütterlich. Er schien sie hinzunehmen, als ob dies der Sold wäre, den jeder Krieger an sein Leben und sein Volk zu entrichten hatte, und nahm sein Schicksal mit Würde. In diesem Moment beneidete Aigonn seinen Onkel – allein darum, dass er seine Schmerzen, die er zweifellos haben musste, so gut zu ignorieren wusste.
„Oh, Rowilan! Ich dachte mir schon, dass du es warst, der gerade eben angekommen ist. Es tut gut zu sehen, dass du erfolgreich warst!“ Damit nickte er seinem Neffen kurz zu, bevor er fragte: „Wie sieht die Lage aus?“
„Sie halten unsere Leute an mehreren Stellen rund um das Lager verteilt gefangen. Es ist fast unmöglich, sie alle gleichzeitig zu befreien, ohne bemerkt zu werden. Ich hatte es fast befürchtet.“
Aehrel brummte missfällig. „Es war zu erwarten. Khomal ist nicht dumm. Konntest du ausmachen, in wie viele Gruppen sie aufgeteilt wurden?“
„Nein. Ich habe mich nicht im ganzen Lager umsehen können. Soweit ich gezählt habe, waren es vier. Es könnten aber auch mehr sein.“ Rowilan warf einen hilfesuchenden Blick zu Aigonn, der jedoch nur mit den Schultern zuckte.
„Das heißt, wir müssen das Lager noch einmal ausspionieren, bevor wir die anderen befreien können.“
„Ja, vielleicht. Ich glaube aber, Aehrel, wir sollten die Schlachtpläne nachher mit den anderen besprechen. Dann brauche ich mich nicht zu wiederholen.“
„Gut.“ Aehrel blickte von Rowilan zu Aigonn und begutachtete die momentane Lage prüfend. Ihm schien nicht entgangen, dass die beiden einen ungewöhnlich friedlichen Umgang miteinander pflegten. Es verging ein kurzer Moment, bis er seinen Worten hinzufügte: „Aigonn, du solltest nachher zu mir kommen, das heißt … in mein Haus. Es geht um deine Mutter.“
Aigonn schreckte so jäh in die Höhe, dass Rowilan einen Teil der Paste verkleckerte, die er gerade auf seine Finger gehoben hatte.
„Mutter? Was ist mit ihr? Ist sie am Leben?“
„Am Leben ist sie, ja …, nur …, schau es dir einfach an, es ist schwer zu beschreiben.“ Damit wandte Aehrel sich um und lief zurück in Richtung Ausgang. Aigonn wollte bereits aufspringen und ihn einholen, als Rowilan seine Schulter packte und ihn zurück in die Felle drückte. „Nicht so schnell, mein Lieber. Erst werden deine Wunden versorgt!“ Aigonn wollte protestieren, doch ein stoßartiger Schmerz, der von seiner Rippe ausging, nahm ihm zum Sprechen die Luft. Demnach hatte er keine Wahl, als abzuwarten und es über sich ergehen zu lassen, wie Rowilan zuerst die Pfeilwunde verband und danach gleichsam seinen verletzten Arm und die gebrochene Rippe untersuchte, wo noch immer ein gewaltiger, blauer Bluterguss unter der Haut zu sehen war.
Aehrels Haus war im Kampf deutlich stärker in Mitleidenschaft gezogen worden. Die vordere Hälfte des Gebäudes war praktisch nicht mehr zu gebrauchen, so instabil waren die Wände von den Brandangriffen geworden. Es schien ihm ein Wunder, dass man das Haus noch rechtzeitig hatte löschen können, bevor es gänzlich in sich zusammengefallen wäre.
Aehrel erwartete Aigonn bereits, auch wenn sein Stiefonkel – wie er sich erneut ins Gedächtnis rief – damit beschäftigt war, Äste und dünne Baumstämme als Stützbalken für die zunehmend instabile Decke anzubringen.
„Komm rein, Aigonn!“ Aehrel blickte sich nicht um, als Aigonn eintrat. Sein Onkel hatte ihm den Rücken zugedreht, während er an dem Holz hantierte, und wies nur flüchtig auf die andere Seite des Raumes, die durch verrückte Regale und einen Holztisch nicht einsehbar war. „Dort ist deine Mutter. Ich will dich warnen: Sie hat zwar keinerlei Verletzungen in der Schlacht von sich getragen, doch ich würde sagen, ihr geht es schlimmer als zuvor. Viel schlimmer. Du solltest dich darauf gefasst machen.“
Aigonn nickte nur stumm. Rowilan hatte ihm einen starken Trank verabreicht, der nicht nur seine Schmerzen stillte, sondern gleichzeitig seinen Geist wie durch eine Schale von der Außenwelt abzuschirmen schien. Denken fiel ihm schwer. Er war nicht im Stande dazu, sich größere Szenarien auszumalen, sondern fühlte nur einen dumpfen Druck, tief in seinem Magen, der mehr verriet als jede Sorge. Als Aigonn näher an die Regale herangetreten war, hörte er auf einmal leise, erstickende Menschenlaute. Es waren keinerlei Worte auszumachen, als hätte man dieser Person die Stimme zum Sprechen genommen.
Aigonns Knie zitterten, als er an den Regalen vorbeisah und erblickte, was er im Grunde lieber nicht hatte sehen wollen. Seine Mutter lag auf einem notdürftigen Schlaflager aus Fellen und Grasmatten. Äußerlich waren ihr keinerlei Verletzungen anzumerken, doch ihre weit aufgerissenen Augen schimmerten im Fieberglanz. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, hatten längst ihre schmutzige Bluse durchnässt und ihre Haare strähnig werden lassen. Ihr ganzer Körper bebte und zitterte, als würde sie augenblicklich von Krämpfen geschüttelt. Doch je genauer Aigonn hinsah, desto mehr schien es, als befände sie sich vielmehr auf einer Flucht vor Verfolgern, die nur sie allein sehen konnte. Sie träumte, halluzinierte, was auch immer es war. Aigonn hatte keinen Namen dafür.
Er war neben dem Regal zu einer Säule versteinert und starrte erschrocken auf die Gestalt seiner Mutter, deren Augen zur niedrigen Decke gerichtet waren. Das war es also. So würde es enden. Im Geheimen hatte Aigonn immer geglaubt, gehofft, dass seine Mutter eines Tages zu ihnen zurückkehren würde, aus ihrer eigenen Welt hinaus in die Gegenwart. Doch was immer er sich gewünscht hatte, in diesem Moment war er überzeugt davon, dass es nicht mehr in Erfüllung gehen würde.
Aigonn zuckte unmerklich, als Aehrel die Hand auf seine Schulter legte und ihm traurig ins Ohr raunte: „Vielleicht ist es besser, wenn das Ende schnell kommt!“
„Glaubst du, sie wird sterben?“ Dieser Gedanke weckte Aigonn aus seiner Apathie. Furcht glomm in seinen Augen auf, als er Aehrel ansah und dieser nur betroffen den Blick abwandte. „Sie hat hohes Fieber, ohne dass ich sagen kann, woher es kommt. Nach dem Angriff habe ich sie so hinter den Trümmern eures Hauses gefunden. Wie es scheint, hat sie versucht wegzurennen, als sie den Brand gerochen hat. Instinkte sind manchmal doch stärker als der Verstand. Aber weit gekommen ist sie dabei nicht.“ Er sog hörbar die