Aigonn erstaunte. „Du kanntest sie in einem früheren Leben?“
„Durchaus.“
„Wer war sie? Kannst du mir ihren Namen sagen?“
Nun zögerte die Nebelfrau. Aigonn wollte nicht von sich behaupten, dass er das Gesicht eines solchen Geistes der Dunstschwaden wahrhaft zu deuten vermochte, doch in diesem Moment schien sie mit ihrer Situation unzufrieden. „Das wiederum darf ich dir nicht sagen. Mein Herr verlangt es von mir. Er ist der Ansicht, dass es einer Seele nicht hilft, wenn sie mehr über sich und ihr vergangenes Leben erfährt, als sie aufzunehmen bereit ist. Und damit hat er Recht. Sie wird selbst ihre Erinnerungen finden oder es niemals erfahren.“
Diese Antwort ließ Aigonn in jeder Hinsicht unbefriedigt. Die Frustration der vergangenen Tage darüber, dass so viele seiner Fragen unbeantwortet blieben, ereilte ihn unvorbereitet und wuchs immer stetiger, als die Nebelfrau darüber zu schmunzeln begann.
„Du kommst dir sehr verloren vor, nicht wahr?“ Aigonn brauchte auf diese rhetorische Frage nicht zu antworten.
„Dies ist das Schicksal eines jeden Sehers, bevor er lernt, seine Kräfte entsprechend zu nutzen. Du stehst noch ganz am Anfang – noch weiter vorn, als du es vielleicht selbst von dir glaubst.“
„Habe ich überhaupt eine Chance, dass sich dieser Zustand irgendwann ändert?“
„Oh ja. Aber dafür solltest du dich beeilen und verhindern, dass Khomal deine Freundin zurück zu den Göttern schickt. Mein Herr hat sie nicht gerufen, damit ein fremder Fürst sie zum Opfer macht!“
„Ich tue, was ich kann! Im Moment bin ich zu mehr nicht in der Lage!“
Der hilfesuchende Blick, mit dem Aigonn die Nebelfrau bedachte, verwandelte sich in Verzweiflung. Er wusste, dass die Zeit drängte, mit jedem Herzschlag die Chance mehr zerfloss, Anation lebendig befreien zu können. Selbst das Angebot des Khomal, über ihr Schicksal zu diskutieren, nachdem Aigonn seinen Auftrag erfüllt hatte, beruhigte ihn nicht im Geringsten. Aigonn zweifelte nicht daran, dass der Eichenfürst ihn in diesem Punkt belogen hatte.
Die Nebelfrau spürte die Sorgen, die Aigonn bewegten. Tröstend sagte sie ihm: „Mein Herr gibt seine Diener nicht so schnell auf, darauf kannst du vertrauen. Sie hat hier noch ein wenig mehr zu erledigen!“
Beruhigt war Aigonn dadurch nicht, doch er wusste, dass die Nebelfrau ihm im Moment nicht viel mehr anbieten konnte. Versonnen blickte er zu Rowilan hin, dessen Geist den Körper nun vollständig verlassen hatte und über dem Moor auf Streifzüge ging. Aigonn hatte gerade den Mund geöffnet, um noch etwas zu der Nebelfrau zu sagen. Doch als er sich wieder umwandte, war die Gestalt verschwunden und hatte lediglich eine silberne Dunstschwade zurückgelassen.
Hörbar atmete Aigonn aus. Seine Gedanken wollten beginnen, sich um das eben Gehörte zu drehen, doch – dem Alkohol sei Dank – sie kamen nicht so weit. Als er sich umsah, glaubte er für einen Moment, die Gestalt eines greisen Mannes zwischen Heidekraut und Wollgras zu erkennen. Ein Fell, groß wie das eines Hirsches, aber dicker und in einer weißlich-braunen Färbung, bedeckte seine Schultern und ging beinahe in seine grauen, brustlangen Haare über. Sein Kinn war mit einem dichten, buschigen Bart bewachsen, eine Tätowierung in Form eines Sonnenrades zierte seine Stirn. Als Aigonn versuchte, sich immer stärker auf dieses Bild zu konzentrieren, sah der Greis plötzlich in seine Augen – und als ihre Blicke sich trafen, verlor Aigonn für einen Herzschlag das Gefühl, was Gegenwart war und was Vergangenheit.
Überlebende
Als die kläglichen Überreste der Siedlung zwischen den letzten Bäumen des Waldes auftauchten, musste Aigonn schlucken. Den Eichenleuten war es gelungen, einen gut sechzig Fuß langen Abschnitt der Palisaden vollkommen einzureißen, während das Holz an anderer Stelle fast zu Asche verbrannt war. Niedergetrampeltes Gras und in der Sonne getrocknete Blutlachen hielten die Erinnerung an die vergangene Schlacht lebendiger, als Aigonn es sich wünschte. Der Geruch nach Verwesung umgab selbst die Wiesen, und die Rauchschwaden, die in Richtung der Totenaue gen Himmel stiegen, ließen Sterben und Vergänglichkeit erschreckend nah werden.
Als Rowilan und Aigonn den Waldrand hinter sich gelassen hatten, hob der Schamane die Hände, und kurz darauf war hinter nahen Sträuchern das Entspannen eines Bogens zu hören.
„Ihr habt Wachen aufgestellt?“ Aigonn sah sich nach allen Seiten um, konnte aber niemanden entdecken. „Mit Jagdbögen? Damit wird ein einzelner bei einem erneuten Angriff nicht viel ausrichten können!“
„Bei einem erneuten Angriff können wir ohnehin nicht mehr tun, als die Flucht zu ergreifen! Die Wachen sind dafür da, eventuelle Späher rechtzeitig ausfindig zu machen. Dafür reichen die Jagdbögen – auch wenn es nicht üblich ist, sie im Kampf zu benutzen.“
„Es würde auch gar keinen Sinn machen! Wer soll denn so viele Pfeilspitzen schmieden?“
„Eben. Wir gedenken auch keine Schlacht zu führen, sondern nur lange genug zu überleben, bis Hilfe eintrifft.“
Mit diesen Worten gab Rowilan seinem Pferd einen leichten Klaps, während er es an den Zügeln führte, und beschleunigte seinen Schritt, um schnell die Siedlung zu erreichen.
Das Bild der Zerstörung verlor nichts von seinem Schrecken – auch nicht, als das Innere des Dorfes in Sicht kam. Der größte Teil der Behausungen war niedergebrannt. An den dünnen Rauchsäulen erkannte Aigonn, das die wenigen Überlebenden größtenteils in Tierställen untergekommen waren. Einige Kinder beschäftigten sich abwesend mit Tonkügelchen und angesengten Holzfiguren, die sie scheinbar vor den Flammen gerettet hatten. Doch an ihren Gesichtern, den blutunterlaufenen Augen, war ersichtlich, dass der Krieg auch an ihnen nicht spurlos vorbeigegangen war. Wie viele Waisen mochten dort sitzen? Nach Rowilans Berichten konnte bestenfalls ein Fünftel aller Männer den Angriff überlebt haben – und der größte Teil davon befand sich aktuell in Gefangenschaft.
Um seinen letzten Hoffnungsfunken am Leben zu erhalten, griff Aigonn noch einmal das Gespräch mit dem Schamanen auf: „Du sagtest, wir warten auf Hilfe?“
„Ja.“ Rowilan blickte ihn nur kurz an, bevor er sich weiter in der Siedlung umsah. „Wir haben Boten zu einer der Siedlungen östlich von hier geschickt. Bisher haben wir weder eine Antwort noch ein Lebenszeichen erhalten, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Sie werden uns nicht im Stich lassen – allein der Ehre wegen. So feige sind Fewiros und seine Männer nicht.“
Fewiros war ein Cousin des Behlenos. Der Fürsprecher der dritten großen Siedlung der Bärenjäger hatte seinem Verwandten gegenüber nie ein freundschaftliches Verhältnis gehegt, doch Ehre und Sippenbande hatte sie beide schon einige Male zuvor zusammengeführt. Fewiros hatte Behlenos’ Fürstentitel anerkannt und ihm damit Treue geschworen. Würde er seinem Fürsten nun den Beistand verweigern, konnte ihn jedes Kind zur Rechenschaft ziehen – wenn es sich denn traute. Aigonn aber konnte nicht umhin, an diesem Treueschwur zu zweifeln. Fewiros würde keine bessere Gelegenheit bekommen, um den Titel des Fürsten für sich zu gewinnen – ganz egal, ob sich der Stamm jetzt schon um gut ein Drittel seiner Angehörigen verkleinert hatte.
Aigonn vertrieb diesen Gedanken vorerst. Er würde noch Gelegenheit für das Schmieden eines Planes haben, wie er Anation und Efoh retten könnte – wenn nötig, auch im Alleingang. Im Moment aber beanspruchten die Pfeilwunde und der Rippenbruch Aigonns Aufmerksamkeit immer penetranter. Weder der Alkohol noch die Weidenrinde, die Rowilan ihm noch einmal zum Morgengrauen hin verabreicht hatte, zeigten mehr größere Wirkung. Der Schlafmangel gab sein Nötigstes dazu.
Rowilans Haus war zu Aigonns Erstaunen größtenteils unversehrt geblieben. Außer einigen Brandspuren am Strohdach hatte der Krieg keinerlei Spuren hinterlassen und Aigonn war froh, sich dort auf Rowilans Lager niederlassen zu können. Der bekannte Duft, der diesem Haus anhaftete, ließ merkwürdige Gefühle in Aigonn aufsteigen. Die Erinnerung daran, wie er versucht hatte, von Rowilan die Wahrheit über Deronas Tod zu erzwingen, flackerte vor seinen Augen – als